Proteste in Belarus: Verhärtete Fronten in Minsk
In der belarussischen Hauptstadt Minsk demonstrieren wieder Tausende. Oppositionsführerin Tichanowskaja droht Lukaschenko mit Generalstreik.
Gegen 14 Uhr strömten aus allen Teilen der Hauptstadt Menschen, zum großen Teil mit weiß-rot-weißen Fahnen in den Händen oder um die Schultern übergeworfen, zum Partisanenprospekt im Industrieviertel. Kurz nach 14 Uhr begann dort „der Partisanenmarsch“, wie sich die Demonstration diesen Sonntag nannte. In einem Aufruf zur Demonstration wird an die Tradition der Belarussen als Partisanen erinnert. Immer wieder riefen die Demonstrierenden in Sprechchören „Streik“.
Nicht sehr glücklich über die Marschroute ist Aktivistin Alexandra Kondratiewa. „Im Industrieviertel gibt es weniger Fluchtmöglichkeiten, wenn man einem Wasserwerfer oder Polizisten entfliehen will“, bemängelt sie. Außerdem seien dort streckenweise keine Hochhäuser. Und gerade von den Balkons der Hochhäuser hätten die Bewohner der Innenstadt bei den bisherigen Demonstrationen die Polizeigewalt fotografiert und sofort über das Internet verbreitet.
Obwohl die Demonstration am Stadtrand stattfand, hatte die Polizei sechs U-Bahn-Stationen im Zentrum gesperrt und markante Punkte, Plätze und Kreuzungen in der Innenstadt hermetisch mit Stacheldraht abgeriegelt, so die Aktivistin am Telefon. „Wieder sind wir in Minsk über 100.000 gewesen“, resümiert sie. Dagegen schreibt die russische gazeta.ru, es seien 15.000 Menschen gewesen, die belarussischen Portale charter97.org und tut.by sprechen von „einigen Zehntausend“.
Gewalt gegen demonstrierende RentnerInnen
Kurz nach 15 Uhr versperrten Polizeieinheiten auf dem Partisanenprospekt der Demonstration den Weg. Gleichzeitig machten Männer in schwarzen Masken gezielt Jagd auf Demonstranten. tut.by berichtet von brutalen Festnahmen einzelner Demonstranten durch die Polizei. Auch Blendgranaten, so berichtet Belsat, seien zum Einsatz gekommen.
Schon unter der Woche hatten die Menschen in Minsk demonstriert. Bei zwei Demonstrationen von Frauen und Studierenden am Samstag waren nach Angaben des Menschenrechtszentrums Wjasna 29 Personen festgenommen worden. Unter den Festgenommenen waren auch drei Journalisten, die nun ebenfalls im berüchtigten Gefängnis Okrestina sitzen. Am Montag hatte die Polizei eine Demonstration von RentnerInnen mit Gewalt aufgelöst, am darauf folgenden Tag hatten Körperbehinderte in ihren Rollstühlen demonstriert.
Am Samstag hatten Anhänger von Alexander Lukaschenko in einem Autokorso aus gut hundert Fahrzeugen von Minsk nach Witebsk ihre Unterstützung für den Präsidenten demonstriert. Die Teilnehmer dieser Kundgebung hatten keine Festnahme zu befürchten.
In Brest hatten gut 100 Menschen gegen Lukaschenko demonstriert, in Gomel war das Zentrum so hermetisch abgeriegelt, dass eine dort geplante Kundgebung nicht möglich war. Zehn Personen, berichtet tut.by, seien in Gomel festgenommen worden. In Grodno waren gut hundert Menschen beim „Partisanenmarsch“ dabei.
Tichanowskaja stellt Ultimatum
Am Dienstag hatte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja Alexander Lukaschenko ein Ultimatum gestellt. Wenn dieser nicht bis zum 25. Oktober zurücktrete, die Gewalt auf den Straßen einstelle und alle politischen Gefangenen freilasse, beginne am 26. Oktober ein landesweiter Generalstreik. Gleichzeitig hatte Tichanowskaja noch einmal betont, dass der Protest in ihrem Land gewaltfrei bleiben werde.
Am gleichen Tag erteilte Tichanowskaja allen Bemühungen von Alexander Lukaschenko, die Opposition in einen Dialog zu einer Verfassungsreform einzubeziehen, eine Absage. Für Lukaschenko sei die Verfassungsreform ein Propagandainstrument, mit dem er einen Dialog vortäuschen wolle.
„Doch solange auf den Straßen geschossen wird, Menschen im Gefängnis sitzen, gibt es keinen Dialog“ zitiert das belarussische Portal Naviny.by die Oppositionspolitikerin. Am gleichen Tag ließ das belarussische Innenministerium verlauten, dass die Polizei auch tödliche Waffen einsetzen werde, wenn dies erforderlich sei.
Am Donnerstag machte Tichanowskajas Mitstreiter Valerij Zepkalo, dessen Präsidentschaftskandidatur die Zentrale Wahlkommission im Juli nicht zugelassen hatte, über Twitter deutlich, dass er am Erfolg eines gewaltfreien Widerstands zweifle. „Zeigt diesen Jungs von der OMON-Sonderpolizei, dass ihr auch Männer seid und auch einen Schlagstock in die Hand nehmen könnt. Und der kann auf dem Kopf eines Bastards, der unsere Rentner, unsere Mütter und Väter schlägt, niedergehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos