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Proteste in BelarusEmotionale Nahrung

Ein Soziologe erklärt, warum die Menschen immer noch auf die Straße gehen. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 40.

Ein Kuss vor einer Riege von Bereitschaftspolizisten während einer Protestkundgebung in Minsk Foto: Nadia Buzhan/ap

S onntag. Normalerweise finden sich an diesem Tag Menschen im Zentrum ihrer Städte zusammen, um ihrem Protest gegen die illegitime Macht Ausdruck zu verleihen. Am vergangenen Sonntag veränderten die Minsker*innen ihre Taktik und trafen sich in kleinen Gruppen in Höfen.

Ich wollte mich, wie gewöhnlich, auf den Weg zu einem Geschäft machen. Um in meinem Stadtteil zum Supermarkt zu gelangen, muss ich einen Platz überqueren. Ich bin gerade dabei, etwas Warmes anzuziehen, da sehe ich, wie Dutzende Demonstrant*innen vor Sicherheitskräften des OMON davon laufen. Den Gang in den Laden habe ich dann verschoben. Kurz darauf versammelten sich die Menschen aufs Neue und alle wurden festgenommen.

In den vergangenen drei Monaten haben Soziologen eine groß angelegte Untersuchung durchgeführt. Darin wird der Leiter der Belarussischen Analytischen Werkstatt für Soziologen in einem Interview mit verschiedenen Medien wie folgt zitiert: «Der Protest wird nicht weniger und ein Tag (in Haft, Anm. d. Red.) macht keinem mehr Angst! Zum Katalysator der aktuellen Proteste sind nicht nur die gefälschten Wahlen geworden – daran haben sich die Belaruss*innen bereits gewöhnt – sondern die Ereignisse zwischen dem 9. und 11. August, als Alexander Lukaschenko einen Krieg gegen sein Volk entfesselt hat.

Записки из Беларуси

Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.

Zu dieser Zeit haben sich im Bewusstsein der Menschen ihre Angst, ihre Wut und ihre Einstellungen in einen langfristigen Protest verwandelt. Der Teil der Gesellschaft, der Veränderungen erreichen will, ist sich bewusst, dass diese nicht über Nacht eintreten. Daher geben die Menschen nicht auf, auch wenn sie auseinander getrieben werden.

Bild: privat
Olga Deksnis

35 Jahre alt, lebt in Minsk und arbeitet bei dem Portal AgroTimes.by. Sie schreibt über besonders verwundbare Gruppen in der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung, LGBT, Geflüchtete etc.

In der Sozialpsychologie der Protestierenden hat sich die Wahrnehmung von einem Misserfolg des heutigen Tages geändert. Das erzeugt keine Apathie, sondern den Wunsch, nie und wieder auf die Straße zu gehen. Bei den Belaruss*innen hat sich die Schmerzgrenze verschoben. Im Frühjahr hat Sergej Tichanowski (Ehemann der Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, der selbst bei der Präsidentenwahl am 9. August 2020 antreten wollte, Anm. d. Red.) gesagt, es sei nicht schrecklich, 15 Tage zu bekommen, das könne man überleben.

Die Menschen sind bereit, für ihre Interessen und Rechte einzustehen – wohl wissend, welchen Preis sie dafür bezahlen müssen: möglicherweise Prügel, Geldstrafen, Arrest, den Verlust des Arbeitsplatzes. Gleichzeitig wird die Teilnahme an Demonstrationen jedoch als etwas psychologisch Positives und als Energieschub wahr genommen.

Die Aktionen sind für die Teilnehmer*innen so etwas wie emotionale Nahrung, was für Proteste ungewöhnlich ist. Darin liegt die Einzigartigkeit des belarussischen Protests. Die soziologische Untersuchung hat auch zutage gefördert, dass das Vertrauen in die staatlichen Medien stark gesunken ist. Nur noch 4,2 Prozent der Befragten vertrauen ihnen.

Zwischen den Anhänger*innen von Veränderungen und den Unterstützer*innen der Staatsmacht gibt es zwei wesentliche Unterschiede. Für erstere ist die Teilnahme an dem Prozess der Entscheidungsfindung wichtig. Um die Lage zu bewerten, vergleichen sie die Ereignisse in Belarus mit dessen Nachbarstaaten und kommen zu enttäuschenden Schlussfolgerungen. Letztere wollen geführt werden und vergleichen die aktuelle Lage mit den 90er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg.»

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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