Proteste in Belarus – ein Jahr danach: Vom Alltag jenseits großer Politik
Mit der Online-Kolumne „Tagebuch aus Minsk“ begleitet die taz seit September 2020 die Ereignisse in Belarus. Es wird es wohl noch einige Folgen geben.
Ein gutes Jahr ist es her, dass die gefälschte Präsidentschaftswahl in Belarus die Belarus*innen auf die Barrikaden gehen ließ und die größte Protestbewegung hervorbrachte, die das Land seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 erlebt hat. Fast genauso lange begleitet die taz die Versuche der Zivilgesellschaft, die 27-jährige Diktatur von Alexander Lukaschenko hinter sich zu lassen, mit dem Blog „Tagebuch aus Minsk“.
„Uchodi!“, „Hau ab!“ Das war nur einer der Schlachtrufe, die 2020 in vielen belarussischen Städten zu hören waren. Der Adressat: Alexander Lukaschenko, der mit einer dreist gefälschten Präsidentenwahl am 9. August den Bogen endgültig überspannt hatte. Zehntausende Belaruss*innen gingen wochenlang auf die Straße.Ein Jahr danach bilanzieren belarussische Teilnehmer*innen im taz-Panter-Workshop die Ereignisse. Ihnen allen ist gemein, dass ihr Wille, zu Veränderungen beizutragen, ungebrochen ist – allen Rückschlägen zum Trotz. Dieser Text ist erscheinen auf den Sonderseiten der taz-Panter Stiftung „Glaube, Liebe, Hoffnung“.
Janka Belarus (die Autorin schreibt aus Sicherheitsgründen unter Pseudonym) und Olga Deksnis, ehemalige Teilnehmer*innen der Osteuropaworkshops der taz Panter Stiftung, berichten im Wechsel über das, was seit einem Jahr in ihrer Heimat geschieht. Alle Texte erscheinen nicht nur auf Deutsch, sondern auch im russischen Original. Der Fokus liegt auf den kleinen Geschichten des Alltags – auf dem, was in der Medienberichterstattung häufig zu kurz kommt.
Das war und ist das ursprüngliche Anliegen dieses Projekts: die Geschehnisse in Minsk nicht nur mit Blick auf die großen, spektakulären Ereignisse, wie die von Lukaschenko verfügte Zwangslandung eines Urlaubsfliegers in Minsk am 23. Mai 2021, zu erzählen. Vielmehr geht es um die vielen kleinen Vorkommnisse, die das tägliche Leben der Menschen prägen. Aber wie viel Alltag kann es geben in einer Zeit, in der die Angst vor Hausdurchsuchungen, Festnahme und Folter wie ein Damoklesschwert über den Menschen hängt? Menschen, die es wagen, für ihre Meinung auf die Straße zu gehen.
Und oft genug greift die „große Politik“ in den Alltag der Menschen in Belarus ein: Wenn die Machthaber alle Nivea-Produkte aus den Läden räumen lassen, weil die Kosmetikfirma ihr Sponsoring der Eishockey-WM in Belarus zurückgezogen hat. Wenn es reicht, eine fast zehn Jahre alte Hose mit weiß-roter Borte zu tragen, um sich in Untersuchungshaft wiederzufinden.
Kriminelle Süßigkeiten
Oder wenn eine Rentnerin umgerechnet 180 Euro Strafe zahlen muss, weil sie eine belarussische rot-weiße Schaumzuckersüßigkeit zu einer Demonstration mitgenommen hat. Und wenn es immer schwerer wird, sich über aktuelle Geschehnisse zu informieren, weil nach und nach alle unabhängigen Medien abgeschaltet werden.
Was macht es mit der Psyche von Menschen, wenn die eigene Ohnmacht allgegenwärtig ist verbunden mit dem Gefühl, sich nur noch im Kreis zu bewegen und nicht mehr voranzukommen? Wenn die Gewalt auf den Straßen zunimmt und immer mehr Freunde und Bekannte im Gefängnis landen?
„Ehrlich gesagt, möchte ich ein Tagebuch aus Minsk schreiben, in dem es um den Frühling geht, die Liebe und ‚love cats‘, und nicht um diesen Müll, der hier jeden Tag abläuft“, schreibt Janka Belarus Ende März. Um dann von einer Liebe zwischen einem Studenten und einer gleichaltrigen politischen Gefangenen zu erzählen.
Wie oft haben wir, die wir die russischen Originaltexte ins Deutsche übersetzen, immer wieder unruhig ins Postfach geschaut, wenn ein Blogbeitrag auf sich warten ließ. „Ist sie noch zu Hause oder schon im Gefängnis?“ Und nicht selten haben wir beim Übersetzen der brutalen Schilderungen und der Hoffnungslosigkeit, die aus einigen Texten spricht, selbst am Schreibtisch gesessen und geweint.
99 Folgen des „Tagebuchs aus Minsk“ sind bisher erschienen. Wir hatten im vergangenen September nicht damit gerechnet, dass es so viele werden würden. Aber wir werden weitermachen. Wir werden hoffen, bangen, manchmal weinen. Über positive Wendungen und Zeichen der Hoffnung, sollte es sie geben, werden wir uns jedoch umso mehr freuen.
Alle Folgen gibt es hier.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!