Protest gegen Südschnellweg-Ausbau: „Wir kämpfen weiter“
Vergangene Woche wurde in Hannover die Baumhaussiedlung Tümpeltown von der Polizei geräumt. Über ein Jahr hatten die Aktivist*innen Bäume besetzt.
E in Holzernte-Bagger, der mitten auf dem hannoverschen Südschnellweg steht, greift am Montag mit seinem riesigen Arm zu. Es riecht nach Diesel und Sägespänen. Ein dicker, weit verästelter Baum knickt krachend, aber mühelos wie ein Zahnstocher, um. Am westlichen Ende der Schnellstraße durch das Naherholungs- und Naturschutzgebiet Leinemasch werden Tatsachen geschaffen: Es wird gerodet. Von weit her schallen Rufe. Etwa einen Kilometer weiter räumt die Polizei gerade das Baumhausdorf „Tümpeltown“. Es ist eine Zäsur in einem jahrelangen Konflikt. Die Aktivist*innen, die die Polizei wie reife Früchte aus den Baumwipfeln pflückt, sind die Speerspitze des Widerstands gegen den Ausbau der Schnellstraße.
Der Südschnellweg soll auf mehr als zwei Kilometer Länge von 14 auf 25,60 Meter verbreitert werden. Mit neuer Standspur, allerdings ohne zusätzliche Fahrbahn und ohne Fahrradweg. Auf etwa 13 Hektar werden im Naturschutzgebiet Bäume gefällt. Teile sollen später renaturiert werden. Außerdem ist, wenn alles nach Plan läuft – und bei welcher Großbaustelle ist das je der Fall – mit mindestens zehn Jahren Bauzeit zu rechnen.
Seit Jahren machen Aktivist*innen, Anwohner*innen und Umweltverbände dagegen mobil. Die Proteste richten sich gegen die auf Individualverkehr ausgelegte Verkehrspolitik der vergangenen Jahrzehnte, die hier fortgeführt wird. Dem Heiligsten der Deutschen – dem Auto – haben Klimagerechtigkeitsaktivist*innen schon lange den Kampf angesagt.
Drei Tage zuvor herrscht in Tümpeltown am östlichen Ende des Südschnellwegs reges Treiben. Die Polizei zeigt zwar immer mehr Präsenz, bleibt aber noch auf Abstand. Es sind die letzten Tage und Stunden der Baumhaussiedlung. Kontinuierlich donnern Autos auf dem Damm des Schnellwegs auf Augenhöhe vorbei. Ein Autofahrer brüllt eine sexistische Beleidigung in Richtung der Aktivist*innen. Sie seien das schon gewohnt, sagen sie der taz. Flaschen und sogar Böller seien schon vom Schnellweg geflogen, behaupten sie. Überprüfen lässt sich das nicht.
Tag und Nacht sitzen trotz Minusgraden Menschen um ein kleines Feuer. Zwei davon sind Belgrad und Quadrat. Die beiden Vermummten stehen Journalist*innen Rede und Antwort. Belgrad nennt Tümpeltown ihr Zuhause. Seit dem 30. September 2022 ist das Waldstück besetzt. Tümpeltown sei stetig gewachsen, erinnert sich Belgrad. Mindestens dreizehn feste Strukturen zählt die Polizei Hannover in den Bäumen.
In ihren letzten Tagen wächst die Besetzung noch mal gewaltig. Aktivist*innen spannen Traversen aus Polyprop. Ein riesiges Netz hängt über der Besetzung. Per Leiter geht es etwa fünf Meter hoch hinaus, auf die erste Stufe der Waldbesetzung. Die Küche „Hobbykeller“ ist die größte geschaffene Struktur. Klettergurte und eingefrorene Dosen Kichererbsen reihen sich hier fein säuberlich aneinander. Am kleinen Fenster der Küche hängt ein Fernglas. Ein Funkgerät rauscht. Alle sind bereits in Habachtstellung. Draußen fährt mit Sirenen eine Bereitschaftspolizeihundertschaft vorbei.
Unbeirrt erzählt Quadrat weiter: „Wir sehen den Ausbau als eine Fortführung von fossil-kapitalistischen Logiken und richten uns dagegen.“ Tümpeltown sei sowohl die physische Verhinderung des Ausbaus des Südschnellwegs als auch ein autonomer Freiraum, der möglichst anarchistisch und queerfeministisch gestaltet werde, sagt Quadrat. Der Ausbau dagegen stehe stellvertretend für das System und reihe sich in diverse andere Straßenbauprojekte ein, so Belgrad. „Wir befinden uns mitten in der Klimakrise und da ist es komplett zynisch, noch weiter Straßen bauen zu wollen“, sagt Belgrad. Dem stellen sich die Aktivist*innen als Ultima Ratio mit ihren Körpern in den Weg.
Alle sind bereit: Auf dem Fußballfeld neben der Besetzung errichten die Aktivist*innen eine Burg aus Bauzäunen und Schlamm. Ein tiefer, mit Wasser gefüllter Graben umschließt die Konstruktion. Das sorgt vor allem beim Platzwart der Bezirkssportanlage Döhren für Unmut, wie dieser der taz schildert. Noch ist der Boden nach dem Hochwasser der Leine gefroren. Das ändert sich im Laufe der Woche und die Räumung wird zur Schlammschlacht.
„Wenn ich könnte, würde ich das auch machen“, sagt die 64-jährige Rentnerin Carmen Beutler, die nahe des anderen Endes des Schnellweges zu Hause ist. Sie fühlt sich übergangen und allein gelassen und hofft, dass die Aktivist*innen die Baumbesetzung lange halten können, sagt sie der taz. Denn der Ausbau bedroht Beutlers Sommersitz. Ihr Kleingarten soll einer Baustraße weichen.
Beutler ist stinksauer. „Niemand hat mir das gesagt, als ich den Garten im Sommer gepachtet habe“, klagt die Rentnerin, beim Spaziergang durch ihre für den Winter eingepackte Parzelle. Ersatz hat sie noch nicht. Der sei in Klärung, heißt es vom Bezirksverband der Kleingärtner Hannover e.V.. Die Baupläne, die schon lange feststehen, betreffen noch mehrere andere Kleingärten.
Auch andere Pächter*innen wehren sich. Etwa die Künstlerin Anna Piquardt. Ihr Garten ist zwar nicht von möglichen Rodungen betroffen, allerdings läge er zukünftig unmittelbar an der Baustraße. Unzählige Aufkleber und Schilder an ihrem Gartentor verraten ihr Engagement. Besonders hart trifft es einen Eigentumsgarten, der ihrem direkt gegenüber liegt, erzählt sie. Denn hier, am Rand der Kolonie, gibt es mindestens einen Eigentümer, der in einer selbst gezimmerten Hütte direkt neben dem Schnellweg lebt.
Meterhoch steht auch im tiefen Winter das Gebüsch um das kleine verschachtelte Haus. Eine Klingel gibt es nicht. Piquardt erzählt, ihr Nachbar befinde sich in einem Rechtsstreit wegen des Ausbaus. Alle Kontaktversuche der taz bleiben erfolglos. Doch dem Anwohner droht laut Bauplänen auf jeden Fall die Räumung. Im kommenden Oktober geht es den Kleingärten spätestens an den Kragen, habe man ihr bei der Landesbaubehörde gesagt, erzählt Beutler. Bereits jetzt ist der Kahlschlag erfolgt. Rund um die Kleingärten wird am Montagmorgen als allererstes gerodet.
Die Kleingärtner*innen sind ein gutes Beispiel für die Dynamik der Proteste gegen den Schnellstraßenausbau. Ein breites Bündnis verteidigt das Naherholungs- und Landschaftsschutzgebiet Leinemasch eisern. „Leinemasch bleibt“ und die Bürgerinitiative (BI) Leinemasch-West machen mit Informationsveranstaltungen, Petitionen, Mahnwachen, Menschenketten und (Fahrrad-)Demonstrationen seit mehreren Jahren fortlaufend auf die Situation aufmerksam. „Leinemasch bleibt“ ruft zwar nicht zu zivilem Ungehorsam auf, erklärt sich aber solidarisch.
Zu einer Großdemonstration zu Beginn der laufenden Rodungssaison im vergangenen Oktober kamen Tausende. Währenddessen kletterten etwa 50 Aktivist*innen in weißen Maleranzügen auf Baumaschinen – und wurden von den Demonstrant*innen bejubelt. Die Baustelle legte eine Zwangssonntagspause ein. Eigentlich wird am Schnellweg Tag und Nacht und auch am Wochenende gearbeitet. Denn es ist auch ein Rennen gegen die Zeit: Wird das Monsterbauprojekt nicht fertig, droht die Sperrung der maroden Hochstraße wegen Einsturzgefahr.
So groß das Bündnis auch sein mag, die Ausbaupläne des Schnellwegnetzes in Hannover sind beschlossene Sache und haben mächtige Unterstützer*innen: die Industrie- und Handelskammer, den ADAC und Verkehrsminister Olaf Lies (SPD). Sie alle sagen, die Erneuerung sei notwendig. Für den Wirtschaftsstandort und aus Sicherheitsgründen. So sei etwa das Bilden einer Rettungsgasse auf dem Schnellweg nicht möglich. Zehntausende Autos passieren täglich das Nadelöhr. Weder die Biber Egon und Erna, die immer wieder den Tümpel hinter der Besetzung besuchen, noch eine seltene Fledermaus stoppten das Bauprojekt.
Mehrere Klagen wurden abgewiesen. Ein runder Tisch sollte die Gemüter beruhigen. Teilen der Baupläne stimmen die Anwohnenden auch zu. Am Westende wird die marode Hochbrücke einem Tunnel weichen. An anderer Stelle seien alternative Bauweisen und Ermessensspielräume allerdings nie ausgenutzt worden, heißt es von der BI Leinemasch-West. Eine Untertunnelung auf ganzer Strecke etwa, die zu teuer sei. Oder Haltebuchten statt Standstreifen.
Dem widersprach die Landesbaubehörde. Am runden Tisch diskutierte auch „Leinemasch bleibt“ mit – und verließ diesen frühzeitig. Es sei nie darum gegangen, Kritik am Ausbau umzusetzen, sagen die Aktivist*innen. In der Waldbesetzung hatte man das geahnt und war erst gar nicht erschienen. Man wolle sich nicht instrumentalisieren lassen, sagen die Besetzer*innen der taz.
Die Aktivist*innen leisten passiven Widerstand
Am Sonntagmittag treffen sich zahlreiche Unterstützer*innen der Waldbesetzung zu einem „allerletzten Sonntagsspaziergang“ in der Leinemasch. Dass sich hier mehr als nur autonome Klimaaktivist*innen tummeln, ist auf den ersten Blick sichtbar. Vermummte stehen neben Bürgerlichen. Auch Anne Piquardt aus dem Kleingarten ist gekommen. Sie hoffe noch auf ein Wunder, sagt sie der taz. Es sei der allergrößte Spaziergang jemals, ruft Swantje Hahlbohm von „Leinemasch bleibt“ derweil über das Mikrofon. Das sei ein großartiges Zeichen. „Wir sollten alle Unterschiede in den nächsten Wochen beiseite legen und solidarisch sein, egal was passiert und zusammen kämpfen“, ruft Hahlbohm.
Um weiteren zivilen Ungehorsam und eine Unterstützung der Besetzer*innen im Wald zu verhindern, gilt seit dem 15. Januar, sechs Uhr morgens, eine Allgemeinverfügung, die Versammlungen im Sicherheitsbereich für eine Woche untersagt. Auch Journalist*innen ist der Zugang zur Besetzung aus Sicherheitsgründen zunächst verwehrt. Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover muss die Polizei klein beigeben und dann doch einen Zugang zum Räumungsgebiet zulassen.
Als das am Dienstagvormittag geschieht, ist die Räumung bereits in vollem Gange. Behelmte Polizeieinheiten tummeln sich zwischen den Überbleibseln der Besetzung. Von oben regnet es eine undefinierbare Flüssigkeit, von der die Polizei behauptet, es könnte sich möglicherweise um Urin gehandelt haben. Immer wieder fliegt Pyrotechnik.
Abgesehen davon, leisten die Aktivist*innen von Tümpeltown vor allem passiven Widerstand. Sie klettern davon, wenn die Spezialeinsatzkommandos mit Hebebühnen und Klettergurten näher kommen. Sie machen sich schwer und lassen sich ganz schlaff hängen. Nach und nach werden sie bis Mittwochmittag alle in Gewahrsam genommen. Eine mittlere zweistellige Personenzahl ist laut Polizei Hannover bis zuletzt in der Waldbesetzung. Schlussendlich fallen Stück für Stück Teile der Bauten krachend aus den Wipfeln. Am Mittwochmittag sind die letzten Aktivist*innen geräumt.
Für Belgrad und Quadrat ist klar: Das war es noch nicht. Denn durch Bündnisarbeit und die Politisierung vieler Menschen sei bereits Großes erreicht. „Das kann kein Polizeiknüppel, kein Pfefferspray und keine Zelle der Welt mehr wegnehmen“, sagt Belgrad.
„Wir werden weiter kämpfen“, sagt auch Tabea Dammann, die Pressesprecherin von „Leinemasch bleibt“, der taz. „Straßen müssen nach Klimazielen und nicht nach Verkehrsprognosen geplant werden“, so Dammann weiter.
Der Protest wirkt: Das Verkehrsministerium hat bei der ebenso anstehenden Sanierung des Westschnellwegs bereits jetzt angekündigt, anders vorgehen zu wollen. Für die Kleingärtnerin Beutler bleibt bis zuletzt die Frage, wann ihr Garten dem Straßenbau zum Opfer fällt. „Da sollen sie bei mir in die Bäume klettern“, sagt sie der taz.
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