Prokurdische Partei bei der Türkei-Wahl: Die Mini-Revolution
Selahattin Demirtas ist Erdogans gefährlichster Gegner. Selbst wenn seine Partei nicht ins Parlament einzieht: Er zeigt, dass Politik auch sachlich geht.
Denn egal, wie die türkischen Parlamentswahlen am heutigen Sonntag ausgehen werden, schon jetzt ist klar: Eine kleine, nie für möglich gehaltene Revolution ist Realität geworden. Selahattin Demirtas, der kurdische Spitzenpolitiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP), ist die größte Gefahr für Erdogans Allmachtsfantasien.
„Wollen wir ein Land mit einem Präsidenten, der uns Richtung Diktatur führt?“, rief Demirtas kürzlich bei einer Wahlveranstaltung in Sanliurfa, einer Provinzhauptstadt nahe der syrischen Grenze, in die jubelnde Menge. „Oder wollt ihr ein Land, in dem Minderheiten, Arme, Arbeiter, alle Ethnien eine Stimme haben?“ Unter dem Wahlslogan „Büyük Insanlik“ (“Die große Menschlichkeit“) hat sich die HDP vorgenommen, am Wochenende die Zehnprozenthürde zu überspringen und damit den Einzug ins Parlament in Ankara zu schaffen. In Umfragen liegen die prokurdischen Linken mal knapp unter zehn Prozent, mal knapp darüber.
Sollte es die HDP tatsächlich schaffen, ins Parlament einzuziehen, dürfte es für die AKP unmöglich werden, die notwendige Mehrheit für eine geplante Verfassungsänderung zu erhalten, mit der eine von Erdogan beherrschte Präsidialrepublik erschaffen werden soll. Innerhalb kürzester Zeit ist die Partei, die erst im Jahr 2012 von gemäßigten linken, überwiegend kurdischen Gruppen gegründet worden war, so zum Albtraum der AKP-Regierung geworden. Und Erdogan steht sichtlich unter Druck, sein Wahlkampf konzentriert sich seit Wochen nur auf eines: die Denunziation der HDP-Spitze, Selahattin Demirtas’.
Nähe zur PKK
„Wer einen Machtzuwachs von Erdogan verhindern will, muss die HDP wählen“, lautet deswegen so ein Satz, den Demirtas immer und immer wieder sagt. Der 1973 in Palu geborene Menschenrechtsanwalt ist zwar Teil einer Doppelspitze – laut HDP-Parteistatut müssen Spitzenämter mit einem Mann und einer Frau besetzt werden – und die Kovorsitzende Figen Yüksekdag auch auf allen Wahlplakaten neben ihm zu sehen, doch Demirtas ist die alles überstrahlende Figur.
Das liegt zum einen an der patriarchalen Struktur der türkischen Gesellschaft, in der Frauen in der Politik noch immer eher gering vertreten sind. Zum anderen aber auch daran, dass der 42-Jährige unvergleichlich charismatisch, scharfzüngig und dennoch beherrscht auftritt. Erst letzte Woche saß Demirtas singend mit einer Baglama in einer Livesendung im Fernsehen, umschrieb die Politik der aktuellen Regierung mit Filmzitaten aus türkischen Sozialsatireklassikern – das bringt Sympathien ein und ist geradezu gegenteilig zur Präsentation seines Widersachers Erdogan, der als brüllend-verbiesterter Wahlkämpfer durch das Land zieht, vor „gottlosen Politikern“ warnt und mit dem Koran in der Hand wedelt, als sei der eine Parteibroschüre.
Demirtas nimmt es gelassen. Er präsentiert sich als Muslim, dessen Glaube Privatsache ist. Auf seinen Wahllisten finden sich Jesiden, arabische Türken, Aleviten, Armenier, Aramäer, Roma und offen homosexuelle Kandidaten. Aber auch Dilek Öcalan, die Nichte des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan, kandidiert für die HDP – und eben das ist das größte Problem der Partei. Auch wenn die HDP selbst sich als Vermittler im türkisch-kurdischen Friedensprozess darstellt, bietet die offensichtliche Nähe zu der kurdischen Terrororganisation eine Angriffsfläche. Viele Türken sind deshalb misstrauisch. Die Erinnerungen an die mehr als 40.000 Toten in diesem Konflikt sind noch zu frisch. Erst im vergangenen Jahr, während des Gefechts um das syrische Kobani, drohte die PKK mit einem Ende der seit 2013 geltenden Waffenruhe. Und auch Demirtas erzählte einst in einem Interview, er habe als junger Mann damit geliebäugelt, der PKK beizutreten.
Arbeit für Menschenrechte
In seiner Jugend habe er miterlebt, wie Soldaten willkürlich Kurden misshandelten und sein Bruder nach der Teilnahme an einer Demo wegen angeblicher Mitgliedschaft in der PKK zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden war. Da sich seine Familie keinen Rechtsbeistand leisten konnte, entschied sich Selahattin Demirtas dazu, Jura zu studieren. Er arbeitete für eine Menschenrechtsorganisation und ging schließlich in die Politik.
Um von dem Image einer reinen Kurdenpartei wegzukommen, richtet sich die HDP nun vor allem an religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten sowie sozial Schwache. Frauenrechte und sexuelle Selbstbestimmung sind zentrale Wahlkampfthemen – ein Novum in der türkischen Politik. Deutlich mehr Stimmen dürfte es aber einbringen, dass die Partei die Lücke einer attraktiven Alternative zu der in vielen Punkten durchaus erfolgreichen AKP schließt. Denn die Stärke der AKP ist auch der Schwäche der Opposition geschuldet.
Seit ihrem Machtantritt 2002 konnte die islamisch-konservative Regierungspartei drei Parlamentswahlen in Folge gewinnen und dabei jeweils ihren Stimmenanteil erhöhen. Die zwei wichtigsten Oppositionsparteien, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP und die ultranationalistische MHP, haben in den letzten Jahren nichts anderes getan, als sich an Erdogan abzuarbeiten. So gilt die HDP als erste Partei, deren Parteiprogramm einen überzeugenden Weg für eine Post-Erdogan-Ära aufzuzeigen imstande ist.
Als Demirtas im vergangenen Jahr die große politische Bühne betrat, indem er bei den Präsidentschaftswahlen Erdogan herausforderte, war zwar klar, wer das Rennen machen würde. Doch erzielte Demirtas mit 9,8 Prozent einen unerwarteten Achtungserfolg. Sollte es der HDP nun gelingen, noch 0,2 Prozent draufzulegen, wird dies der Beginn einer neuen politischen Ära sein. Aber auch wenn sie es nicht schaffen sollte, hat Demirtas bereits eines geschafft: Er hat gezeigt, dass Politik auch sachlich geht – für die Türkei ist das eine kleine Revolution, angestoßen von einem Kurden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei