Pressefreiheit in der Türkei: Wie das Glück wiederkam
Obwohl Erdoğans Türkei in einer schweren Wirtschaftskrise steckt, sind die Schlagzeilen türkischer Zeitungen positiv. Wie kommt das?
„Lady Gaga schickt Küsschen in die Türkei.“
„Jetzt hat die Türkei auch einen Jumbojet.“
„Türkei macht Fortschritte auf dem Index der Humanentwicklung.“
Und: „Industrie überrascht mit Wachstum.“
Das sind Sätze von den Titelseiten der türkischen Zeitung Hürriyet, der Zeitung mit der zweithöchsten Auflage in der Türkei. Es sind Beispielsätze von Seite Eins, gesammelt in einer Woche Mitte September 2018. Das war eine interessante Woche für Journalist*innen. Denn zur gleichen Zeit protestierten die Bauarbeiter auf der Baustelle des dritten Istanbuler Flughafens – einem der Großprojekte der Regierung – gegen die aus ihrer Sicht unerträglichen Zustände bei Grundbedürfnissen wie der Essensversorgung, ihren Unterkünften, ihren Arbeitsbedingungen. Darüber stand bei Hürriyet allerdings nichts auf Seite Eins. Die Leser*innen des Blattes erfuhren nicht, dass 400 der Arbeiter, die am 14. September protestiert hatten, festgenommen wurden und auch nicht, dass gegen 24 von ihnen anschließend ein Haftbefehl erging.
Das mag eine redaktionelle Entscheidung gewesen sein, aber wahr ist auch: Die Doğan-Mediengruppe, zu der auch Hürriyet gehört, war erst im Juni an die Erdoğan-nahe Mediengruppe Demirören verkauft worden. Mittlerweile sind damit 90 Prozent der Medien von der Regierung kontrolliert. Ihnen zufolge ist die Türkei ein starkes, glückliches Land. Und wer dieses Bild stören will, läuft Gefahr, ein „Terrorist“ zu werden.
„Reden wir nicht lange darüber“
Laut Sabah beispielsweise, eine Zeitung des Erdoğan-Flügels und die meistgelesene Zeitung in der Türkei, handelte es sich bei den Vorfällen am Flughafen nicht um einen Arbeiterprotest, sondern um die Provokation von Terrororganisationen. Es war doch höchst auffällig, meinte die Zeitung, dass die im Rahmen dieser Provokation in den sozialen Medien gestartete Kampagne vor allem aus Deutschland Unterstützung erhielt. Denn Deutschland, hieß es weiter, beneide die Türkei um ihre starke Wirtschaft und den im Bau befindlichen dritten Flughafen. Und so sind es oft kleine, unabhängige Berichterstatter*innen, die das Bild der Lage in der Türkei vervollständigen.
Erst in der letzten Woche zum Beispiel sendete der Youtube-Kanal Açık Ekran („Offener Bildschirm“) eine Straßenumfrage, die großes Aufsehen erregte, weil sie das Gefühl vieler Menschen im Hinblick auf die Presse- und Meinungsfreiheit offenbarte. Die Interviewerin fragt einen älteren Mann: „Herrscht hier eine Wirtschaftskrise?“ – „Ja“, gibt der Befragte zur Antwort, schiebt aber schnell nach: „Reden wir nicht lange darüber, ich habe Familie. Die nehmen einen glatt hops!“ Denn Präsident Erdoğan hatte in Bezug auf die ökonomische Situation gerade erst gesagt: „Eine Krise gibt es hier nicht, das ist alles Manipulation.“
Wenige Tage später, an diesem Montag, wurde der Journalist Ergün Demir vorläufig festgenommenhalten und mit zur Polizeiwache geführt. Er hatte über einen Vater berichtet, der sich vergangenen Sonntag umgebracht hatte, offenbar, weil er seinem Sohn keine Schuluniform-Hose kaufen konnte. Die tragische Nachricht schlug große Wellen, gerade weil die herrschenden Medien behaupteten, es gebe keine Wirtschaftskrise in der Türkei. Nach seiner Freilassung sagte Demir: „Ich möchte, dass die Öffentlichkeit einmal darüber nachdenkt, warum die Meldung über einen Selbstmord vor Gericht kommt.“ Denn zwar wurde der Journalist, der über den Vorgang berichtet hatte, noch am gleichen Tag wieder von der Polizeiwache entlassen. Die Ermittlungen gegen ihn allerdings laufen weiter.
Unabhängige Medien bekommen keine Werbung
Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 waren Hunderte Journalist*innen verhaftet und an die 100 Zeitungen und Zeitschriften verboten worden, darunter neben Medien, die der Gülen-Bewegung nahestanden, auch liberale Zeitungen wie Taraf und kurdische Stimmen wie Özgür Gündem. In den 16 Jahren der AKP-Regierung wechselten zahlreiche Medien ihre Besitzer. Kritische Journalist*innen und Kolumnist*innen sind heute entweder arbeitslos oder arbeiten in anderen Branchen. Auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation Reporter ohne Grenzen im April veröffentlichte, steht die Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern. Das Land dem Bericht zufolge zu den besonders Besorgnis erregenden Ländern.
Zwar wurden der Welt-Korrespondent Deniz Yücel und einige weitere bekannte Journalist*innen freigelassen, doch laut Zählung der unabhängigen Journalismus-Plattform P24 sitzen nach wie vor 175 Journalist*innen und Medienmitarbeiter*innen in türkischen Gefängnissen. In einigen Prozessen fielen bereits Urteile. Drei der führenden Journalist*innen in der Türkei, Ahmet Altan, Mehmet Altan und Nazlı Ilıcak, wurden zu lebenslangen Haftstrafen unter verschärften Bedingungen verurteilt. Das ist die härteste Strafe, die das türkische Strafrecht kennt.
Da das Gros der Medien in der Türkei von der Regierung kontrolliert wird, stehen unabhängige Berichte und Meldungen nur noch in wenigen Zeitungen und Internet-Organen. Diese haben es ohnehin schwer und ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern sich aufgrund der Wirtschaftskrise weiter. Der Journalist Ruşen Çakır, der als Chefredakteur die erfolgreiche Internetmedien-Initiative Medyascope leitet, sagt: „Einrichtungen wie wir, die versuchen, unabhängige Berichterstattung über die sozialen Medien zu leisten, haben ein ernsthaftes Finanzierungsproblem, wir bekommen keine Werbung.“
Nur gute Nachrichten gewünscht
Zeitungen wie Takvim, Akşam oder Güneş machen zwar Verluste, erscheinen aber dennoch weiter – und mit den immer gleichen Überschriften. Ihre Titelseiten bringen tagtäglich frohe Botschaften. In einem breiten farbigen Band oben auf der Seite verkünden sie in großen Lettern:
„Gute Nachricht: Extrazahlung für Rentner.“
„Chance auf Frührente.“
Oder: „Vier frohe Botschaften für Rentner“.
Dass nichts davon aktuell ist oder auch nur Nachrichtenwert hätte, ist dabei unwichtig. Ein Beispiel zeigt vielleicht, wie eine solche Erfolgsmeldung zustande kommt: Da wird etwa das Januargehalt mit der bekannten inflationsbedingten Rentenerhöhung ausgerechnet und zur Erfolgsmeldung gemacht: „Rentner bekommen mindestens 1.896 TL!“ Umgerechnet sind das derzeit 284 Euro.
Übersetzung aus dem Türkischen: Sabine Adatepe
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