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Prekärer Kinderschutz in HamburgJugendamt ist selbst in Not

Mitarbeitende des Jugendamts Mitte prangern in einem offenen Brief ihre Überlastung an. Im Bezirksamt winkt man ab: Hilfe sei schon auf dem Weg.

Kinderschutz wollen alle – aber die Bedingungen dafür zu schaffen, ist eine Herausforderung Foto: dpa

Hamburg taz | Das Szenario, das die Mitarbeitenden des Jugendamts Mitte entwerfen, ist drastisch: „Wir weisen Sie alle darauf hin, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wann ein weiterer Jugendamts-Fall mediale Aufmerksamkeit bekommt“ – der Verweis auf den Tod von Kindern wie Yagmur oder Chantal, die unter der Obhut des Jugendamtes standen, ist offenkundig.

Rechtzeitig zur Wahl hatten sich MitarbeiterInnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) in Mitte mit einem offenen Brief an die Bürgerschaftsfraktionen und das Hamburger Abendblatt gewandt. Die hohe Fluktuation, eine schlechte Leitung und zu hohe Fallbelastungen führten dazu, dass „der Kinderschutz unter diesen prekären Arbeitsbedingungen der Fachkräfte nicht gewährleistet werden kann“.

Glaubt man dem Bezirksamt Mitte, so ist dieser Brief „nicht hilfreich“. So formuliert es Sprecherin Sorina Weiland. Denn die Unterbesetzung vor Ort sei nicht nur bekannt – man versuche seit Ende letzten Jahres, gegenzusteuern und die MitarbeiterInnen zu entlasten. Zudem seien es „einzelne Stimmen“, die sich hier äußerten. Der Brief ist ano­nym gehalten, laut VerfasserInnen, weil sie „weitreichendere Repressalien durch die Leitungskräfte befürchten“.

Deren Mangel an Kompetenz, Rücksicht auf Überlastung und familiäre Belastungen nimmt weiten Raum in dem offenen Brief ein. Daneben geht es vor allem um die hohe Fluktuation und die Arbeitsbelastung. In den vergangenen vier Jahren hätten rund 45 KollegInnen die Abteilung verlassen, die Leitung habe sechsmal gewechselt. Neue KollegInnen könnten nicht ausreichend eingearbeitet werden und würden bereits in der Probezeit mit Fällen von Kindeswohlgefährdung beschäftigt. Vollzeitfachkräfte seien angesichts von „weit über 100“ Fallzuständigkeiten überlastet. Hinweise darauf würden lediglich mit dem Verweis, Fälle zu priorisieren beantwortet.

Die Unterbesetzung ist grundsätzlich unbestritten

Es gibt in diesem Konflikt einen kleinteiligen Anteil, der sich um Fragen wie beispielsweise die Führung eines digitalen Kalenders dreht, der zeigt, bei welchem Einsatz die MitarbeiterInnen gerade sind. Ist das Gängelung oder ein Instrument, um die knappen Ressourcen sinnvoll einzusetzen? Daneben aber gibt es eine von beiden Seiten benannte Unterbesetzung. Zwar will Bezirksamtssprecherin Weiland die im offenen Brief genannten Zahlen zur Fluktuation nicht bestätigen, aber auch sie sagt: „Es ist richtig, dass dort mehr Fachkräfte hin sollen“.

Derzeit sind zwölf von insgesamt rund 100 Stellen im Jugendamt nicht besetzt. Das teilt sich in zwei Regionen, wovon Region 2 mit Mümmelmannsberg und Billstedt mit hoher materieller und Bildungsarmut kämpft und somit mit hohen Fallzahlen, wie es im offenen Brief heißt.

Laut Sabine Kümmerle, Geschäftsführerin des Alternativen Wohlfahrtsverbands SOAL, ist das Problem, Fachkräfte zu finden, ein allgemeines. Und diejenigen, die sich die Stellen aussuchen können, wählten möglicherweise nicht Hamburg-Mitte als Arbeitsplatz.

Die Struktur-herausforderungen im Jugendamt Mitte sind schon länger bekannt

Florian Wesselkamp, Diakonie

„Die besonderen Strukturherausforderungen für das Jugendamt in Hamburg Mitte sind schon länger bekannt“, sagt Florian Wesselkamp, Fachbereichsleiter Kinder- und Jugendhilfe der Hamburger Diakonie. Soweit es ihm bekannt sei, versuche die Jugendamtsleitung intensiv die Strukturen insbesondere in bestimmten Regionen zu stärken.

Sorina Weiland nennt da etwa das gerade angelaufene Projekt „Willkommen und bleiben“, das der hohen Fluktuation entgegenwirken soll. Oder den überdurchschnittlichen Stellenschnitt von 115 Prozent. Was angesichts der unbesetzten Stellen Theorie bleibt. Da kommt der für nächste Woche angesetzte Besuch des Bezirksamtsleiters im Jugendamt nicht von ungefähr.

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1 Kommentar

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  • Also in Mitte wechseln die Zuständigkeiten ständig, man kann nur extrem schwer mit Leuten dort eine Arbeitsebene finden, wenn man bei einem Träger arbeitet, weil man innerhalb von 24 Monaten eventuell drei oder vier Namen erhält. Absprachen muss man immer schriftlich machen, weil eventuell ein neuer ASD-Mitarbeiter kommt. Oft kommt mit dem Wechsel auch eine andere Sicht des Falls, schwierig. Immerhin die Personen, die ich am Ende auch getroffen habe, waren sehr kompetent. Aber es wäre schön, wenn es mehr Verlässlichkeit gebe.