Preisträgerin der Goethe-Medaille 2020: „Bolivien ist divers“
In Deutschland geehrt, in Bolivien gefeuert. Die indigene Museumsdirektorin Elvira Espejo Ayca im taz-Gespräch über den Kulturkampf in Bolivien.
taz am wochenende: Elvira Espejo Ayca, Sie sind Weberin, Musikerin, bildende Künstlerin und Kuratorin. Was verbindet Ihr vielfältiges kulturelles Schaffen miteinander?
Elvira Espejo Ayca: Mich begeistert es, den Dingen auf den Grund zu gehen und sie zu erforschen. Ich denke, das ist der rote Faden, der für mich die verschiedenen Felder – Poesie, Gesang, das Textile oder die bildende Kunst verbindet. Forschung ist sehr interessant, um Informationen vergleichen und ergänzen zu können. So bemühe ich mich, umfassendes Wissen darüber zu sammeln, was die lokale, regionale und kommunitäre Bildung meines Volkes ist. Mit dieser komplementären Erfahrung begegne ich einer, sagen wir, „akademischeren“ oder „universelleren“ Logik. Das ist der rote Faden, und er hilft mir, mich in den unterschiedlichen Bereichen zu bewegen.
Haben Sie das Weben schon als Kind gelernt?
Das textile Thema hat viel mit Bildung in unseren Gemeinschaften zu tun. Bereits im Alter von sechs Jahren wird dir gemeinsam in den Dörfern oder in der Familie das Weben beigebracht.
Wurde 1981 in der Provinz Avaroa im Department Oruro, Bolivien geboren. Ist Künstlerin, Dichterin, Musikerin und Weberin. 2010/11 beteiligte sie sich an der Ausstellung „Das Potosí Prinzip“ mit Stationen in Berlin, Madrid und La Paz. Sie ist Mitglied im Direktorium des „Instituto de Lengua y Cultura Aymara“ (ILCA). Seit 2013 bis zu ihrer Kündigung im Juli 2020 war sie Direktorin des „Museo Nacional de Etnografía y Folklore“ (MUSEF) in La Paz.http://www.musef.org.bo/index.php/bienes-documentales/vdoc
Diese Tradition ist in Bolivien heute noch lebendig?
Solche Fähigkeiten sind zu 80 Prozent sicherlich verloren gegangen. Aber man findet immer noch funktionierende Gemeinschaften, in denen gewebt wird. Doch eine offizielle Ausbildung für textile Kunst gibt es in Lateinamerika nicht. Mode oder Design als Studium existieren zwar, nur geht es da um etwas ganz anderes. Deshalb hat mich auch das Beispiel der Webwerkstatt am Bauhaus mit Künstlerinnen wie Anni Albers so beeindruckt.
Wie haben Ihre biografischen Erfahrungen Sie geprägt?
Ich komme aus einer abgeschiedenen, ländlichen Gegend Boliviens, und natürlich habe ich das Wissen meines Dorfs komplett absorbiert. Es ist eine andere Vorstellung von Bildung, die sich an den Vorgängen des realen Lebens orientiert. Wir beherrschen zum Beispiel die Zucht von Kamelen und die Landwirtschaft. Die Vorstellung über das Universum, die Achtung davor und all diese Dinge unterscheiden sich jedoch sehr von europäischen. Eine vertikal ausgerichtete, internationalisierte Bildung, die zum Beispiel die Philosophie Sophokles’ lehrt, ist für uns schwer zu verstehen. Es entspricht nicht unserem Denken.
Oder wie Mathematik oder Chemie funktionieren. Es geht um ganz andere Aspekte, viele Leute haben nicht die Möglichkeit, diese auf sich zu beziehen und zu reflektieren. So geht sehr viel Information verloren. Ich habe im Leben diese Hürde nehmen können, um beide Seiten kritisch zu hinterfragen und zwischen deren Logiken auf andere Weise Brücken herzustellen. Irgendwie wird das wohl immer meine Aufgabe sein, weil ich aus einer bäuerlichen Region komme und auch das urbane, akademische Umfeld kenne.
Sie sind in diesem Jahr Preisträgerin der Goethe-Medaille. Die Jury unterstreicht besonders diese Fähigkeit, Brücken zu bauen, und würdigt mit der Auszeichnung auch Ihre Verdienste als Direktorin des Nationalmuseums für Ethnografie und Folklore, dem MUSEF in La Paz. Als Sie die Leitung des Museums 2013 übernahmen, worin bestand für Sie die größte Herausforderung?
Die Verleihung der Goethe-Medaille 2020 steht unter dem Motto: „Widerspruch ertragen – der Ertrag des Widerspruchs“. Am 28. August um 11 Uhr ehrt das Goethe-Institut in Kooperation mit der Deutschen Welle die drei diesjährigen PreisträgerInnen, Zukiswa Wanner (Schriftstellerin und Journalistin aus Sambia), den britischen Autor Ian McEwan und Elvira Espejo Ayca in einem digitalen Festakt:
Auch live unter #GoetheMedaille 2020 auf youtube/goetheinstitut
Viele der international anerkannten Museen arbeiten mit einer Chronologie der Objekte – archäologisch, historisch oder ethnografisch. Was ich mit dem Einstieg im MUSEF ändern wollte, war, sichtbar zu machen, woraus ein Objekt besteht und wie man sein Ursprungsmaterial erhält. Welche verschiedenen Bearbeitungsschritte es zu einem Objekt machen, das wiederum ein Teil des sozialen Lebens wird.
Üblicherweise zeigen Museen diese Ketten nicht, weil sie nur die Theorie und nicht die Praxis kennen. Natürlich gibt es Wissenschaften wie die Anthropologie oder die Ethnologie, die Informationen dazu geben, aber nicht mit der selben Präzision. Unsere Herausforderung war es diese Dynamik zu verändern und die Vermittlung zu stärken, um der Gesellschaft den Wert der Praxis und die Zeit bewusst zu machen, die es bedarf, um solch ein Objekte herzustellen. Ich glaube, das hat sehr dazu beigetragen, die Dinge auf eine andere Art zu verstehen und nicht nur vereinfacht in einer zeitlichen Abfolge zu sehen.
„Widerspruch ertragen – der Ertrag des Widerspruchs“ gilt als der Leitspruch des diesjährigen Goethe-Preises. Wie könnte man diese Forderung im bolivianischen Kontext verstehen?
Ich denke, es geht für uns um die Entwicklung einer Denkweise, die von einer Bildung abstrahiert, die für privilegierte Gesellschaften, aber nicht für die ländlich geprägten Gemeinschaften gemacht ist. Mit unseren Überlegungen haben wir dazu beigetragen, andere Perspektiven zuzulassen.
Wie machen Sie diese sichtbar?
Das Überdenken der Konzeption des Museums hat dazu geführt, dass wir angefangen haben, im MUSEF auch Kataloge zu machen. Zum ersten Mal in der Geschichte Boliviens veröffentlichte das Museum Publikationen, teilweise mit über 500 Seiten. Mit diesen Katalogen haben wir Ausstellungen wie etwa „Tejiendo la vida“ über die Produktionsketten des Webens oder „Vistiendo Memorias“ über die kulturelle Transformation der Kleidung geplant.
Daraus ist direkt die Idee zum „MUSEF Pórtatil“, dem beweglichen Museum, entstanden. Denn es ist notwendig, dass eine Gesellschaft ihr Kulturerbe kennt. Und dass ein Museum nicht nur in urbanen Gegenden besucht werden kann, sondern auch in die Dörfer und entlegenen Gemeinden kommt. Es ist wichtig, zwischen dem, was sie sehen und wir kommunizieren, eine Wechselbeziehung besteht.
Neben den Folgen der Coronapandemie leidet Bolivien besonders unter der aktuellen politischen Krise. Ex-Präsident Evo Morales befindet sich in Argentinien im Exil, während eine konservative Übergangsregierung unter Jeanine Áñez die Regierung übernommen hat. Zu deren ersten Amtshandlungen zählte die Schließung des Kulturministeriums. Nun erhielten auch Sie im Juli überraschend Ihre Kündigung als Museumsdirektorin. Welche Rolle spielt die Kultur in der aktuellen politischen Auseinandersetzung?
Das ist die große Schwierigkeit mit dem Staat momentan. Er sieht nur eine Monokultur, während Bolivien divers und vielstimmig ist. Es gibt mehr als 36 Nationalitäten in den verschiedenen Regionen, dem Tiefland, den Tälern oder dem Altiplano. Wir haben eine große Vielfalt, die wichtig war im Kampf für ein Kulturministerium. Das war ein gewonnener Raum, der mit dieser Regierung nun wieder abhanden gekommen ist. Wir Kulturleiter sind wie eine überflüssige Ausstellung übrig geblieben. Ich glaube, dass es da ein mangelndes Verständnis für das eigene Land gibt. Deshalb ist die Ignoranz und der Wunsch, monokulturell geweißt zu sein, so stark. Aber Bolivien ist groß, und die Vielfalt kann uns auf vortreffliche Weise dienen, uns neu zu positionieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure