Preis der europäischen Verständigung: Der Eiffelbrückenbauer
Ein Schriftsteller, wie man ihn jedem Land wünscht: Miljenko Jergović aus Bosnien. Er erhält den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung.
D er Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung geht 2026 an den bosnisch-kroatischen Autor Miljenko Jergović. Es hätte kaum einen passenderen Moment für diese Nachricht geben können.
Jergović ist in den vergangenen 30 Jahren zum produktivsten, erfolgreichsten, politisch luzidesten, intellektuell fundiertesten, kunstverständigsten und auch am meisten kritisierten Schriftsteller, Lyriker, Essayisten, Kolumnisten und Publizisten Kroatiens geworden. Sein Facebook-Account hat zwar nicht die Reichweite der beiden größten Popstars Thompson (rechts) oder Severina (links), aber fast. Sein Blog „Ajfelov Most“ (Eiffelbrücke) fungiert de facto wie das zentrale Literaturhaus Kroatiens, versammelt Autor*innen aus ganz Ex-Jugoslawien.
Es ist nie gerecht, einen einzelnen Autor so derart herauszuheben. Es gibt tausend Gründe, warum andere nicht so im Rampenlicht stehen. Doch Jergovic macht aus seinem unzweifelhaft großen Talent ein öffentliches Gemeingut. Seine künstlerische Gabe, in den Details die Tiefe aufzuschließen, legt er auch in die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung: Ob Politik, Unterwelt oder Kultur – wo andere schweigen, fängt er an zu reden.
Erst vor wenigen Wochen schrieb ich an dieser Stelle über Jergovic, der ins Visier der Rechtsextremen geriet, die auf ihre Weise den 30. Jahrestag des Kriegsendes 1995 feierten: mit Aufmärschen und Übergriffen auf Journalist*innen, Künstler*innen, Ausstellungen, Theaterfestivals und eine serbische Folkloregruppe. Für die selbsternannten „Vaterlandsverteidiger“ ist Jergović freilich schon seit den Tagen des Unabhängigkeitskrieges ein Verräter – zu entschieden begegnet Jergović Nationalismus, Populismus, doppelten Standards und autoritären Entwicklungen.
Als an Jergović’ Hauswand nun eine unmissverständliche Morddrohung auftauchte, war es selbst dem trumpfüßigen Präsident Kroatiens zu bunt, er lud den Autor zum Gespräch und versicherte ihm seine Solidarität.
1994 erschien Jergović’ Erzählband „Sarajevo Marlboro“, mit dem er weltbekannt wurde. 2022 dann eine aktualisierte Version, für die er nun den mit 20.000 Euro dotierten Leipziger Preis bekommt.
1994 starb mein kroatischer Vater und ich machte einen großen Bogen um alles, wo Kroatien draufstand, weil ich in den meisten Fällen Nationalismus drin vermutete. Wie konnte ich auch anders, es wurden in Kroaten damals sogar Getränkedosen verkauft, die nicht mit Coca-Cola, sondern mit „kroatischer Luft“ gefüllt waren. In den deutschen Bibliotheken stand ich dann immer wieder vor den Regalen mit der jugoslawischen und postjugoslawischen Literatur, und der Name Jergović nahm dort von Jahr zu Jahr mehr Platz ein. Aber irgendwie traute ich mich nicht ran, aus Angst, er könnte einer von diesen Leuten sein, die zwar ganz gut schreiben können, aber sich politisch aus dem Staub machen.
Es war Ruth Tannenbaum der mich vom Gegenteil überzeugte. Der Roman über einen Zagreber Kinderbühnenstar, der Opfer der kroatischen Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs wurde, ließ die kroatischen Nationalisten zürnen. Jergović’ präzise Beobachtungen, wie Menschen auf autoritäre und gewaltvolle Bedrohungen reagieren, wie menschlich das als „unmenschlich“ beschriebene Morden und das Beim-Morden-Zugucken ist. Der Preis für europäische Verständigung ist die Unterstützung für jemand, der von vielen als Störenfried betrachtet wird, in Wahrheit aber den falschen Frieden stört und für einen gerechten Frieden eintritt.
Der Leipziger Preis ist bei weitem nicht der erste, den Jergović in Deutschland bekommt. Mir selbst wurde die Ehre zuteil, die Laudatio auf ihn zu halten, als er 2018 den Georg-Dehio-Buchpreis bekam. Die Literaturkritikerin Daniela Strigl schrieb in ihrem Nachwort zur deutschen Ausgabe von „Sarajevo Marlboro“ bereits 2009, dass Jergović bald zu den Nobelpreiskandidaten gehörten dürfte.
Wenn Sie, liebe Leser*innen, nicht zu jenen gehören wollen, die am Tag der Bekanntgabe des Nobel- oder eines weiteren großen Preises sagen wollen: „Nie gehört!“, wissen Sie ja jetzt, was Sie über die Feiertage lesen sollten.
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