piwik no script img

PortraitVortänzerin mit Gebärden

Gehörlose haben keine Lobby, heißt es. Die Kommunikationsbarriere hindert sie daran, ihre Interessen zu formulieren. Für GebärdensprachdolmetscherInnen gibt es immer noch keine Budgets. Auch wenn die UN-Behindertenrechtskonvention etwas anderes sagt.

Nun aber haben die Gehörlosen Kassandra Wedel. Die 31-Jährige hat die ProSieben-TV-Show „Deutschland tanzt“ gewonnen. In den sozialen Medien wurde sie von Gehörlosen frenetisch gefeiert, inzwischen wird sie mit Nyle DiMarco verglichen. Das ebenfalls gehörlose Model gewann gleich zwei US-Fernsehshows hintereinander: „America’s Next Top Model“ und „Dancing with the Stars“. Mit fast 800.000 Likes auf seiner Facebook-Seite ist er zum Star unter den Gehörlosen avanciert.

Hörend geboren und in Hessen aufgewachsen, ertaubte Wedel mit vier Jahren bei einem Autounfall. Ihre Mutter schickte sie – für damalige Verhältnisse ungewöhnlich – auf eine Regelschule. So gesehen ist Wedel eine Pionierin der schulischen Inklusion. Allerdings konnte sie ihren LehrerInnen nur teilweise folgen – es gab noch keine GebärdendolmetscherInnen für den Unterricht. Nach dem Abitur wurde sie Tanzlehrerin und studierte Theaterwissenschaften und Kunstpädagogik. 2012 gewann sie eine inklusive Tanz-WM im HipHop, heute unterrichtet sie Hörende wie Gehörlose im Tanz. Es folgten TV-Auftritte, etwa bei „Hirschhausens Quiz des Menschen“ und im Saarbrücken-„Tatort“.

Mit der linguistischen Anerkennung der Gebärdensprache in den 60er Jahren als vollwertige Sprache ist bei Gehörlosen ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Viele verstehen sich heute als Teil einer sprachkulturellen Minderheit, nicht als Behinderte.

Wedel leistet ihren Beitrag dazu. Obgleich sie sich verständlich in der Lautsprache äußern kann, zog sie in ihren TV-Auftritten die Gebärdensprache vor. Zudem verstand sie, die Faszination der visuell-gestischen Sprache zu nutzen: In ihrem ersten Tanz der Finalshow baute sie Elemente der Gebärdensprache ein.

Bei „Deutschland tanzt“ war das Fernsehpublikum die Jury. Viele Gehörlose stimmten mehrfach mit kostenpflichtigen SMS für Wedel – eine Art Lobbyarbeit. Auch wenn die Einschaltquoten gering waren, ihr Sieg wird nicht nur Kassandra Wedel selbst weiterhelfen, sondern allen Gehörlosen. Denn ihre Botschaft lautet: Gehörlose können alles – außer hören.

Thomas Mitterhuber,36, Chefredakteur der Deutschen Gehörlosenzeitung

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen