piwik no script img

Polnisch-belarussische Grenze„Die Situation ist unerträglich“

Die Lage in der Grenzregion von Polen und Belarus bleibt angespannt. Berichte über volle Lager und versuchte Grenzdurchbrüche halten an.

Polnische Soldaten an der Grenze zu Belarus Foto: Marcin Obara/dpa

Berlin taz | Wenn Polens Regierung auf Kontinuität gehofft hat, wurde sie nicht enttäuscht: In Warschau blieb Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Wochenende auf der Linie seiner Vorgängerin. Das Vorgehen des belarussischen Präsidenten Lukaschenko sei „menschenverachtend“; von „hybrider Kriegsführung“ sprach er. Berlin werde Polen unterstützen, damit es „sich nicht erpressen lassen muss“. Hilfsorganisationen und Medien endlich ungehindert Zugang zur polnisch-belarussischen Grenzregion zu gewähren, forderte Scholz indes nicht.

Dabei hat sich die Lage nicht entspannt: Im Dezember hat Polen bislang 938 versuchte Grenzübertritte registriert. Zuletzt hätten insgesamt 100 Menschen teils „gewaltsam“ versucht, die Grenze zu durchbrechen. Kaum eine Meldung des hochgerüsteten Grenzschutzes kommt ohne Verweis auf angebliche Angriffe durch Flüchtlinge aus.

Am Dienstag wurde bekannt, dass Polen von Juli bis Oktober 2.505 Asylsuchende aus dem Nahen Osten und Afghanistan registriert hat – eine überschaubare Zahl. Asylsuchende werden dort für die Dauer des Verfahrens in Internierungslagern isoliert festgehalten.

Das Portal InfoMigrants berichtet von einem Aufstand im Lager Wędrzyn nahe Frankfurt (Oder). Dort sind 600 Menschen untergebracht, je 25 schlafen in einem Raum. „Sie kennen das polnische Recht nicht. Sie wissen nicht, was mit ihnen passieren wird“, sagte der grüne polnische Abgeordnete Tomasz Aniśko nach einem Besuch. „Die Situation ist völlig unerträglich.“

Fünfzehn bestätigte Todesfälle

Derweil ist unklar, wie viele Menschen in Belarus noch auf die Möglichkeit eines Grenzübertritts warten. Am 4. Dezember startete der letzte Flug zurück in den Irak. Seit November sind etwa 2.000 Menschen auf diesem Weg zurückgekehrt. Ende November schätzte die UN-Migrationsorganisation IOM die Zahl der in Belarus festsitzenden Menschen auf rund 7.000. InfoMigrants veröffentlichte Bilder einer Lagerhalle in Bruzgi, in der rund 1.000 Personen untergebracht sind. Sie berichteten, die Polizei dränge sie, die Grenze zu durchbrechen.

Am 6. Dezember meldete das polnische NGO-Bündnis Grupa Granica den Tod einer 38-Jährigen. Die schwangere Mutter von fünf Kindern starb demnach an den Folgen von Unterkühlung, nachdem die Familie sieben Tage in den Wäldern des Grenzgebiets verbrachte.

Damit steigt die Zahl der bekannten Todesfälle auf 15. Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Zudem berichtete die Grupa Granica, dass am 8. Dezember ein Elternpaar bei einer Zurückschiebung durch die polnische Polizei von der vierjährigen Tochter namens Eileen getrennt wurde. Das Mädchen werde seither vermisst.

Nach Deutschland kommen indes immer weniger Menschen durch. Mit Stand 9. Dezember 2021 registrierte die Bundespolizei in diesem Jahr 10.880 unerlaubte Einreisen mit Bezug zu Belarus, „derzeit mit deutlich fallender Tendenz“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • „Die paar Leute, die jetzt in der Kälte stehen, die sind nicht das Problem. Das Problem ist der Erpressungsversuch.“ wird Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen, vor einem Monat in der TAZ zitiert taz.de/Krise-an-be...r-Grenze/!5815401/

    Nicht nur diese zynische Fehleinschätzung bestürzt - in Wirklichkeit sterben die Leute da in der Kälte -, sondern auch, dass sich dies wie ein Diskussionsergebnis grüner Beratungen anhört.

    Nouripour hat da Merkel scharf angegriffen, sie habe mit ihrem Telefonat quasi Lukaschenkos Wahl anerkannt - und er hat sich fast wortgleich mit dem polnischen Ministerpräsidenten geäußert.

    Wolfgang Schäuble hat dafür plädiert, den Geflüchteten ein Asylverfahren in Deutschland zu ermöglichen - dieser Vorschlag ist es, der sich nicht auf die Erpressung Lukaschenkos einlässt, das "Lösegeld" - den sowohl von Belarus als auch Polen verlangten Verzicht auf Humanität - nicht zu zahlen bereit ist.

    "Wertebasierte Politik" geht genau andersrum: die Menschen, Frauen, Kinder (und deren Stofftiere), die da umherirren, die brutalisiert werden, zugrunde zu gehen drohen, sind das Problem, nicht der Erpressungsversuch - das lässt sich aus "Wir schaffen das!" als Lehre sicher ziehen.

    • @ke1ner:

      Ein Hoffnungsschimmer! "Warschau.In einer mehrstündigen Rettungsaktion haben polnische Grenzschützer, Soldaten und Feuerwehrleute vier Migranten geborgen, die sich im Grenzgebiet zu Belarus in einem Moor verirrt hatten. Mithilfe einer Drohne der Armee sei es gelungen, die Menschen in dem schwer zugänglichen Gelände zu finden, teilte der Grenzschutz am Mittwoch per Twitter mit"

      www.rnd.de/politik...47ECSPNCGS4DE.html

      Das kann sogar bedeuten, dass die polnischen Soldaten an der Grenze mit dem Kurs ihrer Regierung nicht einverstanden sind - jedenfalls ist ein Signal der Menschlichkeit

  • "Das Vorgehen des belarussischen Präsidenten Lukaschenko sei „menschenverachtend“; von „hybrider Kriegsführung“ sprach er"

    Vor allem die Grünen in der Ampel übernehmen Lukaschenkos Framing: "hybride Kriegsführung" erklärt Menschen zu Komplizen des Diktators, die tatsächlich seine Opfer sind - er erreicht so mehr, als er hoffen konnte.

    Denn ihm bzw. Putin geht es um Destabilisierung, nicht in erster Linie um die Integrität von Grenzen. In der Ukraine ist das nicht gelungen, das Land demokratisiert sich (deswegen verschärft Russland die Spannungen)

    In Deutschland sind es die AfD oder Pegida, die das Werk Putins besorgen, Geflüchtete zur Gefahr erklärt und so den demokratischen Rechtsstaat, seine Werte erodieren, "absaufen lassen" - in Polen ist es die PiS, Wasserwerfer bei Minustemperaturen sind tödliche Waffen an der Grenze (vgl. a. Petrys 'Schießbefehl' 2016)

    Und sowohl Polen als auch Belarus führen die EU hier vor: Polen zeigt, was es von den Rechtsstaatsverfahren der EU hält, Lukaschenko entlarvt ihre Rechtsstaatlichkeit als Show: diese Geflüchteten haben ein Recht auf Asylverfahren in Polen, dieser Teil seiner Versprechungen kann sich auf geltendes Recht stützen.

    Und die Ampel, die Grünen, haben "wertebasiert" an den Nagel gehängt, stehen auf Seiten der polnischen Regierung - die das umsetzt, was die AfD im Bundestag fordert. Wofür sie von den Grünen scharf kritisiert wird.

  • Hilfsorganisationen und Medien endlich ungehindert Zugang zu geben, wäre überfällig. Polen muss die Situation unbedingt transparent und nachvollziehbar machen!

    Das soll allerdings nicht heißen, dass Polen nicht weiterhin die Hoheit darüber behalten sollte, wer die Grenze passiert. Die humanitäre Versorgung kann durchaus auch auf der Belarus-Seite gewährleistet werden. In dieser Frage ist Kontinuität sehr zu begrüßen, weil sich die EU auch weiterhin nicht erpressbar machen darf. Das hat wohl auch die Ampel-Koalition und die grüne Außenministerin verstanden.

    Die bisherige Antwort aus EU-Sanktionen und Zurückweisungen auf die "hybride Kriegsführung" hat sich insofern ja bewährt, dass sich wenigstens nicht noch mehr Menschen auf die die gefährliche Reise nach Belarus und ins Grenzgebiet begeben haben. Hätte man nicht so reagiert, wären heute wohl deutlich mehr als nur 7.000 Menschen betroffen. Die Zahlen hätten sich mit Sicherheit vervielfacht. Durch die aktuelle Strategie wurde also tausendfach menschliches Leid und noch mehr Todesfälle verhindert.