Polizeiskandal in NRW: An der Wand
Manipulationsvorwürfe, ein erneut verschleppter Kindesmissbrauchsskandal: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) muss um sein Amt kämpfen.
Bochum taz | Nordrhein-Westfalens CDU-Innenminister Herbert Reul gerät wegen Polizeiversagens und Manipulationsvorwürfen immer stärker unter Druck. Im Innenausschuss des Landtags musste Reul am Donnerstag Nachmittag einräumen, dass Nordrhein-Westfalens Polizei nach dem tausendfachen sexuellen Missbrauch auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde in einem zweiten Fall von Kinderpornografie massiv geschlampt hat.
Außerdem könnten Beamte bei Ermittlungen gegen den grundlos inhaftierten und in seiner Zelle verbrannten syrischen Bürgerkriegsflüchtling Amad. A. IT-Systeme der Polizei manipuliert haben, um seine Festnahme nachträglich zu rechtfertigen.
Im Mittelpunkt des zweiten Kinderpornografie-Skandals steht ein Physiotherapeut und Heilpraktiker aus Bad Oeynhausen: Während Behandlungen soll er pornografische Fotos von mindestens zwei Kindern gemacht haben. Schon im November 2017 hatte ein IT-Spezialist aus Baden-Württemberg, der die Bilder bei einer Fernwartung der Rechner des 60-Jährigen fand, die Polizei alarmiert.
Hausdurchsuchungen scheiterten
Doch in Haft sitzt der Physiotherapeut erst seit einer Woche: Bei der zuständigen Kriminalpolizei Minden-Lübbecke passierte zunächst monatelang nichts, dann scheiterten drei Durchsuchungsversuche – weil der Beschuldigte nicht zu Hause war.
Beim vierten Anlauf fand die Polizei prompt „umfangreiches Beweismaterial“. Dass bis dahin 16 Monate vergingen, erklären die Beamten mit dem Hinweis, sie hätten den Beschuldigten persönlich antreffen wollen – schließlich habe der Kinderporno-Dateien auch auf seinem Mobiltelefon mit sich herumtragen können.
Innenminister Reul hält das für einen „klaren Fehler“: Die Ermittlung hätte „höher priorisiert“ werden müssen, klagt er. Parallelen zum Skandal von Lügde, in dem mittlerweile gegen acht Beschuldigte ermittelt wird, die mindestens 40 Opfer missbraucht haben sollen, sind damit unverkennbar: Dort waren zwischen ersten Hinweisen und Festnahmen sogar 17 Jahre vergangen.
Verdacht der nachträglichen Fälschung
In Erklärungsnot geraten ist der zunehmend gereizt wirkende Reul auch im Fall des in seiner Zelle verbrannten Syrers Amad A. Bisher hatten Innenministerium und Polizei dessen monatelange grundlose Inhaftierung mit einer kaum glaublichen Verwechslung erklärt: Ein von der Staatsanwaltschaft Hamburg gesuchter Schwarzafrikaner aus Mali habe den gleichen Aliasnamen benutzt.
Nach Recherchen des ARD-Magazins Monitor soll dieser Alias aber erst drei Tage nach der Verhaftung des Syrers in die IT-Systeme der Polizei eingefügt worden sein – dazu sei ein weiterer Tarnname des gesuchten Mannes aus Mali einfach überschrieben worden.
Sollte dies zutreffen, hätten Beamte Behördendokumente gefälscht, um die Verhaftung vom Amad A. nachträglich zu rechtfertigen. Die Staatsanwaltschaft Kleve, die den Fall untersucht, gibt sich bisher bedeckt: „Die Berichterstattung wird in unsere Ermittlungen einfließen“, so der zuständige Oberstaatsanwalt Günter Neifer zur taz.
Innenminister Reul, der in allen drei Skandalen größtmögliche Transparenz und schnelle Aufklärung versprochen hat, betont, die Manipulationsvorwürfe seien zunächst nur ein „Verdacht“. In den Oppositionsparteien wird dagegen über Rücktrittsforderungen gegenüber Reul nachgedacht: „Wenn der Innenminister den Verdacht einer absichtlichen Verwechslung nicht sofort und belegbar ausräumen kann, steht der Vorwurf im Raum, dass Öffentlichkeit und Parlament bewusst getäuscht wurden“, sagt der rechtspolitische Sprecher der Grünen Landtagsfraktion, Stefan Engstfeldt, zum Fall Amad A. „Scheitert die Aufklärung“, droht auch SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty, „scheitert Reul“.
Leser*innenkommentare
urbuerger
Allein der Tatsache halber, dass Beamte der Polizei, denen Nachgewiesen wurde, sich mit großzügig ausgelegter Zurückhaltung bei der Kinderporno Sache in Lüdge noch immer im Dienst sind, wenn auch versetzt, sollte Reul doch dazu bringen Zurückzutreten!
Es darf ncht sein, dass gerade Polizeibeamte, welche sich derart gravierende Fehltritte erlauben, noch im Amt belassen werden, dies gilt ebenso für die Jugendamtsmitarbeiter!
Diese Geschichte, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, hat in der Beamtenschaft nichts mehr verloren, zu mal diese mit immer mehr Befugnissen ausgestattet werden!
Hier wird beamtlichen Übergriffen Tür und Tor geöfnet, welches ich vor kurzem selbst erlebt habe!
Als Anzeigender einer Rechtradikalen Attacke durch Jugendliche wurde ich des Nachts über 30 Minuten verhört, während die Angreifer nach kurzer Belehrung durch einen der beiden Beamten gehen durften!
So gar meine schlafende Tochter wurde geweckt und befragt, obwohl sie am Geschehen völlig unbeteiligt war!
Übrigens hat der Streifenwagen von der 8 KM entfernten Wache bis zum Einsatzort gerade mal nur 45 min gebraucht, obwohl ich den Beamten am Telefon mitgeteilt hatte, dass die Hooligans in meine Wohnung windringen wollten und mir drohten mit Bierflaschen den Schädel einschlagen zu wollen, also stand Köperverletzung im Raum!
Toll das sich soviel Mühe gemacht wurde, mich als Angegriffenen so ausgiebig zu befragen, wenn auch in einem sehr herablassenden Stil!
Hauptanliegen der Beamten war es wohl diesen Angriff nicht als Rechtsradikal aufnehmen zu müssen, denn das haben sie auch nicht getan!!!
Uranus
Also Brandschutzverordnungen durchsetzen kann er ja. Da steht ihm die Polizei freudig, knüppelnd bei Fuß. Kann mensch da nicht mal ein Auge zudrücken? Der arme Reul! ;)
Rainer B.
Es sieht so aus, als ob selbst der NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) gegen die Wagenburgmentalität einer Polizei machtlos ist, die sich mittlerweile selbst für das Gesetz hält, weil man ihr ständig in blindem Vertrauen immer mehr Befugnisse zugestanden hat. So gesehen macht er jetzt nur einen Lernprozess durch, den so mancher Bürger bereits schmerzhaft hinter sich hat. Vertrauen ist gut im privaten, kann aber Kontrolle im öffentlichen Raum niemals ersetzen.
Justin Teim
@Rainer B. Guter Kommentar - wirft aber die Frage nach Überwachung im öffentlichen Raum auf.
Ein zweischneidiges Schwert.
Rainer B.
@Justin Teim Die Überwachung gibt's doch längst, nur die Überwachung der Überwacher fehlt.
Sonntagssegler
Ich finde es in diesem Schlamassel immerhin beruhigend, dass die IT-Systeme der Polizei anscheinend sinnvoll gegen (unbemerkte) Manipulation abgesichert sind.
Beunruhigend finde ich allerdings, dass die Information über die Manpulationen von außen kommen musste.
Das klingt nach versuchter Vertuschung kombiniert mit Whistleblowing.
97088 (Profil gelöscht)
Gast
Mit dem Polizeifall „Lügde“ richtig umzugehen ist in der Tat schwer. Wenn die Polizei schon bei Massendelikten wie Verkehrsübertretungen, Unfällen, Einbrüchen, Diebstählen, etc. das ermittelnde Handtuch wirft und ständig politisches Chaos korrigieren oder Sportveranstaltungen schützen muss können steuernzahlende Bürger wenigstens bei hammerharten Rechtsverstößen eine klare und kompetente Polizeiarbeit erwarten. Klappt das nicht, müssen Verantwortliche ihre Unfähigkeit erkennen und gehen.
Gerhard Krause
@97088 (Profil gelöscht) Ich meine, dass Sie mit Ihrer Einleitung eher erklärt haben, warum der völlig richtige wohl bei den Bürgern bestehende Wunsch, wenigstens hammerharte Fälle professionell zu bearbeiten bzw aufzuklären, eher in den Bereich der "romantischen Komödie" fällt, sprich idR unerfüllbar ist.
Weidle Stefan
Durch die neuen, exzessiv bürgerrechtsfeindlich aufgeblähten PAG‘s, ist unsere Polizei mit derart unkontrollierbarer Macht ausgestattet, dass Bürger bei jeder Verfehlung derselben unerbittlich darauf dringen muss, dass sofort Köpfe rollen. Verantwortlich oder nicht, das spielt bei solchen „Möglichkeiten“ keine Rolle mehr, beim kleinsten Hauch von einem „Geschmäckle“, muss vom Streifenpolizisten bis zum Innenminister, jeden sofort der eiserne Besen treffen.
Die bezeichneten Skandale zeugen davon, dass wir bislang deutlich zu leichtgläubig mit den „Freund und Helfern“ umgegangen sind.
90118 (Profil gelöscht)
Gast
niemand würde diesem menschen freiwillig irgendetwas anvertrauen.
trotzdem ist es passiert. das ist politik. aber: die demokratie ist das einzige was wir haben. und letztlich kommt immer wieder mehr licht auf faule machenschaften und faule beamte, als diesen recht sein dürfte.
Uranus
@90118 (Profil gelöscht) "niemand würde diesem menschen freiwillig irgendetwas anvertrauen... letztlich kommt immer wieder mehr licht auf faule machenschaften und faule beamte, als diesen recht sein dürfte."
Nicht wahr? Das ist doch ein guter Grund gegen Parlamentarismus und Regierungen. Ohne machtvolle Ämter kann diese Macht eben auch nicht missbraucht werden. ;)
Wagenbär
Der willkürliche Polizei-Großeinsatz beim Hambacher Forst (Begründung: "Feuergefahr", aber ALLE Feuerlöschmittel wurden von der Polizei als erstes geklaut) bei dem ein Mensch (ein Blogger/ Fotojournalist) zu Tode kam, und Dutzende Menschen verletzt wurden, ist kein nennenswerter Skandal?
nelly_m
Der Fall Lügde legt tatsächlich offen, dass es in den Polizeibehörden in NRW (und nicht nur da, siehe Hanibal etc.) schon lange viele faule Eier gibt. Für einen 17 Jahre währenden Missbrauch kann man Reul natürlich nicht verantwortlich machen.
Aber mit den Law-and-Order Behörden-Chefs wie Seehofer, Maaßen und Reul (und die Liste ist leider sehr, sehr viel länger) bekommen bestimmte Methoden einfach zuviel Rückenwind und Deckung. Und wenn ihnen das auf die Füße fällt, dann kann das für die Wieder-Hin-Entwicklung zum Rechtsstaat hier sehr förderlich sein. (Fragt sich, wie immer, was dann so nach kommt...)
Renate
Der Verdacht liegt nahe, dass hier nicht nur versucht wurde, die Inhaftierung von Amad A. durch diese Fälschung der Daten zu rechtfertigen, sondern dass Amad A. am Ende ermordet wurde. Man kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen, inklusive ihrem kotzwiderlichen Chef, dort landen, wo sie schon lange hingehören.
sachmah
@Renate Den Eindruck kann man wohl haben. Was ist das Motiv? Einfach Fremdenfeindlichkeit macht keinen Sinn, denn es ist klar, spätestens nach einem Todesfall wird ermittelt und dann fliegt die Sache auf. Also gibt es eine Verbindung des Opfers zu irgendeiner staatlichen Stelle bzw einem Bediensteten. Verwechslung scheidet ja nun wohl aus.
Daniel S
Sowenig Sympathien ich für Herrn Reul habe. (Ich mache ihn u.a. für das neue Polizeigesetz sowie die unsäglichen Repressionen im Auftrage von RWE verantwortlich.)
Sowenig verstehe ich, dass er jetzt politisch für Missstände, die seit 17 Jahren bestehen, verantworlich gemacht werden soll. Das fällt halt jetzt zufällig in seine Amtszeit. Wäre der Kipo-Ring zwei Jahre früher aufgefallen, dann wäre halt Herr Jäger verantwortlich gemacht worden.
Und, dass Ausländer in Polizeigewahrsam durch mysteriöse Umstände sterben, ist jetzt auch nicht zum ersten mal passiert.
Jetzt ist Zeit den Polizeiapparat ordentlich umzukrämpeln, damit die Polizei in Zukunft bessere Arbeit macht und solche schrecklichen Dinge nicht mehr geschehen. Gebt Herrn Reul doch Zeit bis zur nächsten Wahl um zu sehen, was er diesbezüglich unternimmt. Und dann können wir über seine und die Arbeit der gesamten Regierung abstimmen.
Gerhard Krause
@Daniel S Sie sagen da schon viel Wahres.
Gerhard Krause
@Daniel S Sie sagen da schon viel Wahres.
Frau Kirschgrün
@Daniel S … und die Erde ist eine Scheibe und der Osterhase kommt auch bald.
Er hat doch auf ganzer Linie versagt, rechtsstaatlich und die Verhältnismäßigkeit seiner Handlungen betrachtet.
RWE und die Polizei sehen das sicher eher positiv, was er so macht bzw. nicht gemacht hat.
Rücktritt. Jetzt.
Gekündigt kann er ja leider nicht werden…
Daniel S
@Frau Kirschgrün Was ich sagen wollte: Nach dem Tod von Steffen Meyn hätte Herr Reul unbedingt zurück treten müssen. Er hatte diesen Polizeieinsatz unter grotesken Begründungen betrieben.
Allerdings ist er damals nicht zurück getreten. Wahrscheinlich ist er der Ansicht, dass solche Kollateralschäden nunmal auftreten und das Eigentum von RWE zu bewachen wichtiger ist.
Für die im Artikel beschriebenen Missstände trägt er aber sehr wahrscheinlich keine Verantwortung. Und ich weiß, dass es in der Politik üblich ist, dem politischen Gegner immer eins auszuwischen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Aber genau das halte ich für schlechten Stil.
Angenommen es wäre nicht Herr Reul, sondern es gibt eine neue Regierung einer neuen Partei, die mit hohen Idealen angetreten ist und allgemein gute, wirklich grüne, sozialistische Politik macht. Und dann treten plötzlich zwei Jahre nach Regierungsantritt drei solcher Fälle auf. Würde die TAZ dann auch den Rücktritt des Innenministers fordern? Wahrscheinlich nicht, wohl aber CDU/CSU/AfD.
Gerhard Krause
@Daniel S M.E. hat er den Einsatz moralisch nicht "betrieben", sondern ist quasirationalen Eingebungen gefolgt.
Für mich ist die "Gesamtkonstruktion" der Gesellschaft, von Krankhaften abgesehen, das echte Übel.
Frau Kirschgrün
@Daniel S Mir war schon klar, wei Sie das gemeint haben.
Aber nur weil er einmal nicht direkt für eine Riesen-Sauerei verantwortlich gemacht werden kann, darf er doch für den anderen Schlamassel, den er AKTIV angerichtet hat, nicht entlastet werden.
Das wäre ja, wie ein Mörder, der zufällig im Laden war, als ein Anderer Diebstahl begangen hat, und er deswegen nicht mehr für den Mord zur Verantwortung gezogen werden könnte, nur weil er in der Diebstahl-Situation nicht geklaut hat.
Das ist mir zu viel Nachsicht für einen Menschen, der m. E. sein Amt für undemokratisches und unverhältnismäßiges Handeln mit amtlich verursachter Todesfolge verantwortlich zeichnet.
Amtsenthebung wegen unverhältnismäßigem Hambi-Einsatz wäre m. E. angebracht.
Durch solche Menschen ist ein Friedvolles Zusammenleben wirklich gefährded. Er hat m. E. nur die Wirtschaftsinteressen im Focus. Menschen – außer sie sind Kumpel = sichere Wählerstimmen – sind dem doch sowas von egal.
Volker Maerz
@Daniel S Das hängt dann aber sehr wohl von den Reaktionen des Ministers auf die zutage tretenden Missstände ab.