Polizeiruf 110: „Little Boxes“: Ein bisschen Gesellschaftssatire
Ein Mord am Institut für Postcolonial Studies löst eine Grundsatzdebatte aus. Der Krimi spielt mit überzeichneten Figuren – was teilweise gelingt.
Der Titel des Münchner „Polizeirufs“ führt zu einem Trugschluss. Denn „Little Boxes“ passt ganz und gar nicht in irgendeine Box des klassischen Sonntagskrimis. Wer sich auf nervenaufreibende Spannung, unlösbare Verstrickungen und am Ende einen sprühenden Geistesblitz der Ermittelnden freut, wird hier enttäuscht.
Trotzdem ist die Analogie zum Song der US-amerikanischen Aktivistin Malvina Reynolds aus den 60ern klug gewählt. In ihrem Lied fungieren die „Little Boxes“ als satirische Metapher für vorgefertigte Häuser in den Vorstädten. Im neuen Polizeiruf sind damit die festgefahrenen Haltungen der Personen gemeint.
Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Postcolonial Studies wird tot aufgefunden. Auf seinem Rücken steht in blutroter Farbe „Rapist“. Es ist der erste Fall für Kommissarin Cris Blohm (Johanna Wokalek). Sie führt ihre Kollegen Dennis Eden (Stephan Zinner) und Otto Ikwuakwu (Bless Amada) ins Universitätsmilieu.
Schnell merken sie, dass sie hier nicht willkommen sind, sie stoßen auf Schweigen und hämische Zurufe. Die Ermittlungen gehen nur schleppend voran. Häppchenweise werden neue Erkenntnisse serviert: Tatzeit, Todesursache, Tatverdächtige. Doch der Mord wird zweitrangig, im Fokus stehen der Vergewaltigungsvorwurf und Grundsatzdiskussionen über Rassismus und Sexismus.
„Polizeiruf 110“: „Little Boxes“, So., 17.9., 20.15 Uhr, ARD und in der ARD-Mediathek
Starre Standpunkte und scheiternde Kommunikation
Blohm, Eden, Ikwuakwu sowie die Studierenden und Lehrenden – sie alle verkörpern die unterschiedlichsten Positionen in diesen Diskussionen. Ihre Haltungen prallen kompromisslos aufeinander. Die Schauspieler:innen setzen diese überzeichneten Figuren überzeugend um: Etwa Lise Risom Olsen als Unidozentin, die sich als „Professex“ nicht der binären Geschlechterordnung unterordnen möchte. Oder Stephan Zinner als gutbürgerlicher Kommissar Eden, der mit den intellektuellen Sexismus- und Rassismusdiskussionen wenig anfangen kann und das Ganze auf Stammtischniveau bringt.
Der Plot lebt von der überspitzten Darstellung starrer Standpunkte und scheiternder Kommunikation. Zwischen Aussagen wie „Ehrgeiz ist nicht unbedingt eine attraktive Eigenschaft für eine Frau, vor allem für eine gutaussehende“, „Es ist grundsätzlich immer Vorsicht geboten, wenn ein Hetero-cis-Mann einen Raum betritt“ oder „Is ois oiwei gleich Rassismus?“ gibt es keinen gemeinsamen Nenner. Durch den ironischen Ton wirken die Positionen bizarr. Genau da macht dieser Krimi vieles richtig: Er provoziert. Als Zuschauer:in fühlt man sich ertappt in den eigenen Vorurteilen, egal in welcher Box man sitzt.
Doch so gut man sich auch unterhalten fühlt, an einem Punkt scheitert die Ironie. Denn all jene mit liberalen Haltungen kommen durchweg schlecht weg. Die Studierenden und Lehrenden der Postcolonial Studies wirken befremdlich, fast schon bekloppt. Alle anderen werden humoristisch normalisiert, in die Kommissar:innen kann man sich emotional hineinversetzen.
Doch zum Glück gibt es genug, was davon ablenkt: die Musik von Dolly Parton über Paul McCartney bis Michael Jackson. Oder die schauspielerische Leistung von Wokalek, die mit ihrer humorvollen Art der Rolle als Hauptkommissarin mehr als gerecht wird. Die szenische Aufbereitung punktet mit langen Fernaufnahmen. Und schlussendlich schafft auch der Inhalt eines zweifellos: Er rüttelt auf, er ist unangenehm. Und er beweist einmal mehr: Nur wer zuhört, kann verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste