Polizeigewalt in den USA: In Bruchteilen von Sekunden
In Chicago hat die Polizei Videoaufnahmen vom Tod eines 13-Jährigen bei einem Einsatz im März veröffentlicht. Die Stadt befürchtet Unruhen.
Offenbar war die Polizei in ein Stadtgebiet Chicagos gerufen worden, weil dort Schüsse abgefeuert wurden. Auf den Videos ist zu sehen, wie die Polizisten in einer verlassenen Straße auf zwei Personen stießen und aus ihrem Auto ausstiegen. Der eine, der 21-jährige Ruben Roman, wird von den Polizisten umgeworfen und festgenommen. Der andere, Adam Toledo, läuft weiter die Straße hinunter, Polizist Stillman rennt ihm hinterher.
Einige Meter weiter, an der Öffnung eines Bretterzauns, bleibt Toledo stehen. Stillman brüllt ihn an, er soll seine Waffe wegwerfen und ihm seine Hände zeigen. In dem Moment, als Toledo sich umdreht, schießt Stillman, und der 13-Jährige bricht zusammen. Es sind Bruchteile von Sekunden, in denen sich das abspielt.
In der Einzelbildbetrachtung sieht man, dass Toledo in dem Moment, als er erschossen wird, die Hände hebt und keine Waffe in der Hand hat. „Das Kind hat gehorcht“, sagt später die Anwältin der Familie des Getöteten, Adeena Weiss-Ortiz. „Adam hat getan, was der Beamte gesagt hat, er hat die Waffe fallen gelassen und sich umgedreht. Der Beamte hat gesehen, dass er die Hände gehoben hatte und hat den Abzug betätigt.“
Minuten des Grauens
Stillmans Anwalt wird das anders darstellen: „Der Beamte konnte nirgends Deckung suchen, die Waffe wurde in seine Richtung gerichtet, und ihm blieb keine andere Option“, erklärt Anwalt Tim Grace.
Die Videoaufnahmen von den Minuten danach sind schwer auszuhalten. Stillman geht sofort zu dem auf dem Boden liegenden Adam Toledo. Dem rinnt Blut aus dem Mund, die Augen sind verdreht. Auf Stillmans Frage, wo er getroffen sei, kann er nicht mehr antworten. Stillman fordert sofort einen Krankenwagen und Verbandszeug an, beginnt mit Herzdruckmassage. „Bleib bei mir!“, sagt er dem sterbenden Jugendlichen. Andere Polizisten kommen hinzu, lösen Stillman ab.
Der entfernt sich ein paar Schritte, atmet schwer. Mit einer Kollegin zusammen geht er auf die andere Seite der Bretterwand. Dort sehen sie die Waffe, die Toledo offenbar weggeworfen hat. Stillman muss sich setzen, man hört ihn schluchzen.
Warum der 13-Jährige in dieser Nacht mit Ruben Roman zusammen war, ist noch ungeklärt. Die Schüsse, die zuvor abgefeuert worden waren, stammten aus der Waffe, die Toledo weggeworfen hatte. Allerdings geht die Polizei davon aus, dass nicht er, sondern Roman die Schüsse abgefeuert hatte. Wann, wie und warum dann Toledo die Pistole bekam, ist unklar.
Bürgermeisterin hofft auf Heilung
„Ich sehe keinerlei Hinweise darauf, dass Adam Toledo auf die Polizei geschossen hat“, sagt Chicagos schwarze demokratische Bürgermeisterin Lori Lightfoot am Donnerstag. Sie hofft, dass die Veröffentlichung des Videomaterials „der erste Schritt im Prozess der Heilung der Familie, der Nachbarschaft und der Stadt“ sein kann.
Adam Toledo wohnte mit seiner Mutter, seinem Großvater und zwei Geschwistern in Little Village, einem Latino-geprägten Stadtviertel der South Side, wo er in die 7. Klasse ging. Er ist die jüngste Person seit Jahren, die in Chicago von der Polizei erschossen wurde. „Es darf nicht sein, dass es das ist, was junge Leute in unserer Stadt erfahren“, sagte Bürgermeisterin Lightfoot am Donnerstag. „Wir haben an Adam versagt.“
Schon seit Adam Toledos Tod gab es kleine Demonstrationen und Mahnwachen in der Stadt. Für Montag werden in Minneapolis die Schlussplädoyers im Prozess gegen Derek Chauvin erwartet, den Polizisten, der im Mai 2020 über 9 Minuten lang auf George Floyds Hals kniete, bis dieser sich nicht mehr regte. Am Donnerstag waren die meisten Geschäfte in Chicagos Innenstadt bereits verrammelt, die Stadt befürchtet Unruhen.
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