Polizeigewalt in Hamburg: Schädeltrauma und Falschmeldungen
Nach einer 1. Mai-Demo in Hamburg verletzt ein Polizist einen Demonstranten schwer. Mit der taz spricht der 19-Jährige Demonstrant über den Angriff.
Der 19-jährige Benjamin R. und seine Mutter Melina R. wollten, wie viele andere auch, am 1. Mai gemeinsam demonstrieren. Doch die Polizei ließ es nicht zu. R. und seine Mutter waren zu der anarchistischen Demo nach Hamburg-Lokstedt gefahren, die die Polizei unter Berufung auf unzulässige Vermummung und Transparente mit nicht erlaubten Motiven nicht starten ließ.
Nach vielen abgenommenen Sonnenbrillen und Schlauchschals, vier eingerollten Transparenten und zwei Stunden Verhandlungen mit der Polizei gaben die Leiter*innen der Demo schließlich auf. „Die Polizei wollte uns offenbar nicht laufen lassen, ganz egal, ob wir die Auflagen erfüllen“, sagte ein Sprecher des Schwarz-Roten 1. Mai im Nachhinein der taz.
Die Teilnehmer*innen fuhren mit der U-Bahn Richtung Schanzenviertel, wo eine Versammlung mit Punkkonzerten angemeldet war. Laut mehreren Augenzeug*innen hatte die Polizei den verhinderten Demonstrant*innen zugesichert, dass sie in Kleingruppen dort hingehen könnten.
Letzte Erinnerung, dann: Knockout
Doch für Benjamin endete der Tag statt im Schanzenpark auf der Intensivstation. Nachdem die Polizist*innen die Demonstrant*innen am Bahnhof Schlump aus der U-Bahn gelassen hatte, blockierten sie den Ausgang des Bahnhofs und hielten einen Teil der Demonstrant*innen in einem Kessel.
Der Polizeisprecher Florian Abbenseth begründet das so: „Um einem Großteil ein geordnetes und geschlossenes Erreichen des Schanzenviertels zu ermöglichen, ist eine größere Personengruppe am Ausgang des Bahnhofs kurzzeitig aufgestoppt worden.“
Was dann passiert, dokumentiert ein vom NDR veröffentlichtes Video: Einige Demonstrant*innen überwinden die Polizeikette, Polizist*innen rennen hinter ihnen her auf die gesperrte Straße. Benjamin R. bleibt auf der Straße stehen, einige Meter entfernt von einem Polizisten, dem er den Rücken zuwendet.
Plötzlich stürmt der Beamte auf ihn zu und rammt den 19-Jährigen von hinten mit seinem ganzen Körper um. R. knallt mit seinem Hinterkopf auf den Asphalt auf. Das Bild, wie der Polizist wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt gewesen sei, sei das letzte, woran er sich erinnere, sagt R.. Dann: Knockout.
Benjamin R., schwerverletzter Demonstrant vom 1. Mai
Das nächste, was Benjamin R. mitbekommt, ist, dass ihm ein Beatmungsschlauch aus dem Hals gezogen wird. Das ist gut sieben Stunden später, also um zwei Uhr morgens, auf der Intensivstation im Klinikum St. Georg. R. schwebt da nicht mehr in Lebensgefahr.
Wie es zu dem Gewaltausbruch des Polizisten kam, dazu sagt die Pressestelle der Polizei nichts, sondern verweist auf die internen Ermittlungen, die gegen ihren Kollegen laufen. Im Entlassungsbrief des Krankenhauses, der der taz vorliegt, steht unter anderem: „Schädelhirntrauma, Krampfanfall. Sprung gegen ein Polizeischild bei 1. Mai Demo am Schlump“. Doch dass die Hamburger Polizei Schilde einsetzt, kommt extrem selten vor. Auch am 1. Mai waren keine Schilde im Einsatz. Woher kommt die Falschinformation?
Üblicherweise greift das Krankenhaus auf den Bericht der Rettungskräfte zu, die vor Ort waren. Die wiederum bekommen ihre Informationen beim Eintreffen am Ort des Geschehens von den Ersthelfer*innen oder Zeug*innen.
Die ersten, die Benjamin R. Hilfe geleistet haben, waren zwei Mitdemonstrant*innen, die gar kein Interesse an einer Schutzbehauptung für den Polizisten haben dürften. Die ersten Sanitäter*innen, die Benjamin R. vor Ort versorgten, waren Polizeisanitäter*innen. Ins Krankenhaus transportierte ihn schließlich ein normaler Rettungswagen.
Innenbehörde steht unter Druck
Polizeisprecher Abbenseth sagt dazu: „Wir können nicht nachvollziehen, woher diese Info kommt.“ Die Innenbehörde gibt zu den laufenden Ermittlungen keine Auskünfte.
Mit den internen Ermittler*innen der Polizei hat Benjamin R. schon Bekanntschaft gemacht, als er kaum aus dem künstlichen Koma erwacht war. „Ich wurde von zwei Polizistinnen aus dem Schlaf gerissen, die sagten, dass sie gegen einen Kollegen ermitteln“, erzählt er. Er habe ihnen gesagt, dass er sich nicht erinnern könne, und weitergeschlafen. Seitdem hätten ihn die Beamt*innen noch mehrfach angerufen.
Dass die Ermittler*innen so viel Eifer an den Tag legen, ist nicht selbstverständlich. Das Video, das den Angriff des Polizisten so genau dokumentiert, dürfte jedoch Druck auf die Innenbehörde ausüben. Auf den Aufnahmen sieht man nicht nur, wie der Polizist Benjamin R. unter Einsatz seines ganzen Körpers umschmeißt, sondern auch, wie er einfach weg geht, als R. mit dem Kopf aufschlägt und zu krampfen beginnt.
Im Raum stehen müsste folglich der Verdacht auf zwei Straftaten: Körperverletzung im Amt und Unterlassene Hilfeleistung. Die Innenbehörde sehe bislang nur einen Anfangsverdacht auf Körperverletzung im Amt, sagte der Sprecher Tim Spießberger. „Sollten im Rahmen der Ermittlungen weitere Straftaten bekannt werden, werden diese selbstverständlich ebenfalls Gegenstand der Ermittlungen“, sagte Spießberger.
Glück gehabt
Benjamin R. weiß, dass er Glück gehabt hat. Er erlitt ein Schädelhirntrauma, aber Blutgefäße und Schädelknochen blieben unverletzt. Heute, eine Woche nach dem Angriff, leidet er noch an Kopfschmerzen und hat Schwierigkeiten, eine Flasche aufzuschrauben oder schwere Dinge zu heben. Aber es hätte viel schlimmer ausgehen können. „Das ist mir erst in den vergangenen Tagen bewusst geworden“, sagt er. Es habe eine Weile gebraucht, bis der Schock der Wut gewichen sei.
Über das Ausmaß der Polizeigewalt sei er nicht überrascht, sagt R.. Darüber, dass der Polizist ihn einfach liegen ließ, allerdings schon. „Dass ein Mensch in Uniform sich gar nicht um mein Leben kümmert, das in diesem Moment in Gefahr war, macht mich fassungslos“, sagt er. Das einzige, wofür sich der Polizist interessiert habe, sei offenbar seine berufliche Zukunft.
Auf dem Video sieht man, wie der Beamte seine Hand verdeckend vor die Nummer an der Uniform hält, über die er zu identifizieren ist. Dazu kommt die falsche Schutzbehauptung mit dem Polizeischild. R. sagt: „Ich habe das Gefühl, unter den Lügen der Polizei fast zu ersticken.“
Von den internen Ermittlungen erwarten Benjamin R. und seine Mutter einerseits nicht viel, weil sie die Statistiken kennen, die nicht für deren Erfolg sprechen. Andererseits ist da doch ein bisschen Hoffnung, weil es das Video gibt, und weil der Vorfall in der Öffentlichkeit für Empörung gesorgt hat. Erstmal wollen sie abwarten, dass Benjamin R. gesund wird. Dann wollen sie sich über eigene rechtliche Schritte Gedanken machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin