Polizei in Flüchtlingsunterkunft Suhl: Geprüft wird hinterher
Die Polizei will bei einem Einsatz gegen Geflüchtete eine IS-Flagge gesehen haben. Jetzt stellt sich heraus: Die Flagge gab es nicht.
Ein bizarrer Anblick: Vergangenen Dienstag rückten rund 150 Beamt*innen, teils in medizinischen Schutzanzügen, vor der Geflüchtetenunterkunft in Suhl an. Sie sollten Unruhe in der Unterkunft beenden, die begonnen hatte, nachdem nach ersten Corona-Fällen eine Quarantäne für alle Bewohner*innen angeordnet worden war. Im Zuge des Einsatzes verbreitete die Suhler Polizei allerdings Falschnachrichten, wie sich jetzt herausgestellt hat. Auf deren Basis starteten Rechte im Netz eine Hasskampagne gegen Geflüchtete.
Seitdem bekannt geworden war, dass sich ein Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung mit dem Coronavirus infiziert hatte, galt eine Quarantäne für alle 533 Bewohner*innen. In der Folge kam es in der Einrichtung zu „Unmutsbekundungen über die notwendigen Einschränkungen und versuchten Quarantänebrüchen“, so die Polizei in einer Pressemitteilung am Dienstag.
Das „gefährdende Verhalten“ ging demnach von einer Gruppe namentlich bekannter Personen aus. Ihnen galt der Polizeieinsatz. Die 22 Geflüchteten wurden in die leerstehende Jugendarrestanstalt nach Arnstadt gebracht. „Größere Zwischenfälle“ habe es dabei nicht gegeben.
Der Suhler Polizeichef Wolfgang Nicolai schilderte den Einsatz auf einer Pressekonferenz am Dienstag und fügte dabei brisante Details hinzu. Vor dem Haupttor der Unterkunft versammelten sich demnach etwa „etwa 30 junge Männer, überwiegend aus Georgien und den Maghreb-Staaten“, die „unter Zeigen einer IS-Fahne“, versuchten, das Tor zu überwinden, und „eine sehr aggressive Stimmung an den Tag legten“.
Islamistische Symbole? Es ist etwas komplizierter
Dabei seien vor allem Kinder in der ersten Reihe postiert und als „Schutz für ihre Handlungen genutzt“ worden, so der Polizeichef. In einer zweiten Pressemitteilung heißt es zudem, dass die besagten Männer islamistische Symbole zeigten.
Im Nachhinein dementierte die Polizei dann aber, dass eine IS-Flagge, beziehungsweise überhaupt eine Flagge hochgehalten wurde. Der Hinweis sei erst kurz vor der Pressekonferenz von einem unbeteiligten Zeugen an die Polizei herangetragen worden, teilte die Landespolizeiinspektion Suhl auf Anfrage der taz mit. Um Spekulationen vorzubeugen, habe man die Information zugleich auf der Presskonferenz mitgeteilt. Auf ihren Wahrheitsgehalt wurden sie jedoch erst im Anschluss überprüft.
Bei den „islamistischen Symbolen“ – die gab es wohl tatsächlich – handele es sich um ein „auch von Islamisten verwendetes Grußzeichen“, wie die Polizei Thüringen zwei Tage später auf Twitter mitteilte. Eine Sprecherin der Polizei erklärt, dass man sich auf den Tauhid-Finger beziehe, den einige der Männer gezeigt hätten.
Der nach oben ausgestreckte Zeigefinger symbolisiert im Islam aber zunächst einmal den Glauben an die Einheit Gottes, das Handzeichen wird auch von nichtfundamentalistischen Muslimen verwendet, etwa beim Glaubensbekenntnis. Auch wenn die Geste vom IS zeitweise „gekapert“ wurde: Sie zu zeigen ist weder strafbewährt noch verboten.
Auch die AfD hetzt mit
Die Falschmeldungen der Polizei kommen einigen gerade gelegen: Der Sprecher der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreich, Martin Sellner, kommentiert auf seinem Youtubekanal einen Ausschnitt der Pressekonferenz: „Mit einer IS-Fahne bewaffnet, mit Kindern in der ersten Reihe rennen die Geflüchteten gegen die Polizei an.“ Sellner zeigt Videoausschnitte von der griechischen Grenze, um die bereits dementierten Angaben zu bebildern. Aus Suhl gibt es kein entsprechendes Bildmaterial.
Der vorbestrafte Rocker und ehemalige Polizist Tim Kellner bezieht sich auf Youtube ebenfalls auf die widerlegten Aussagen des Suhler Polizeichefs. Das Video unter dem Titel „Unfassbar – Die Schlacht von Suhl!“ hat bereits mehr als 130.000 Aufrufe. Kellner ist einer der einflussreichsten rechten Youtuber.
Auf Youtube geistern zahlreiche solcher Ausschnitte der Pressekonferenz umher. Gottfried Curio, innenpolitischer Sprecher der AfD, lud den Videoausschnitt samt Falschmeldungen ebenfalls auf seinem Youtube-Kanal hoch.
Die rechtskonservative Wochenzeitung Junge Freiheit und die Online-Zeitung Tichys Einblick schreiben von „Randalierern mit IS-Fahne“. Laut Zeit Online titelte sogar das Nachrichtenportal Web.de „Asylanten attackieren Polizisten und Mitarbeiter“, änderte die Überschrift jedoch im Nachhinein.
Ein Blick in die Kommentarspalten genügt, um zu erkennen, wie solche Fehlinformationen Rechten bei der Hetze gegen Geflüchtete in die Hände spielen können: „Wäre es nicht sinnvoller IS-Sympathisanten dort in Quarantäne zu stecken, wo sie herkommen? Was haben derartige Subjekte in Deutschland zu suchen?!“, schreibt ein User.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück