Politologin über gefälschte Menasse-Zitate: „Ich habe die Quellen nie überprüft“
Robert Menasse erhält am Freitag die Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Auch Ulrike Guérot hat mit falschen Zitaten der EU-Gründer gearbeitet.
taz: Frau Guérot, Sie waren über Silvester im Urlaub. Wie haben Sie die Debatte über Robert Menasse und seine falschen Walter-Hallstein-Zitate erlebt?
Ulrike Guérot: Ich habe in Indien nicht viel davon mitbekommen. Auf dem Zwischenstopp in Dubai hat mich aber Ansgar Graw von der Welt auf dem Handy angerufen, dem ich ein kurzes Interview gegeben habe.
Graw hatte herausgefunden, dass Menasse und Sie ein falsches Zitat des EU-Gründers Walter Hallstein verwendet haben: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!“ Sie haben Graw gesagt, dass in dem FAZ-Text von 2013, in dem das Zitat auftaucht, Menasse und Sie jeweils einen Textteil zugeliefert haben, Sie aber Menasses Teil mit dem Zitat nicht überprüft haben.
Mein zweiter Satz war, dass ich mich mit Robert bezüglich seiner Interpretation solidarisiere, was Hallstein mit seinen Reden wollte – wie auch immer er sie fälschlich zusammengefasst hat. Und als drittes habe ich mich gewundert, warum ein Artikel von 2013 sechs Jahre später auf einmal Gegenstand solcher Debatten wird.
Der Historiker Heinrich August Winkler hat dazu schon 2017 im Spiegel geschrieben und Menasse, Jakob Augstein und Ihnen gleich mehrere falsche Hallstein-Zitate vorgeworfen. Den kennen Sie?
Natürlich, ich lese ja die Presse des Landes. Ich fühlte mich zunächst nicht dazu berufen, zu antworten, weil der Artikel hauptsächlich gegen Robert ging. Dann rief aber Jakob Augstein an und wollte von uns eine Replik. Die habe ich geschrieben, und Robert ist drübergegangen. Aber sie ist nur im Freitag statt im Spiegel erschienen, wo sie kaum jemand gelesen hat. Weswegen Herr Augstein mir noch ein Abendessen schuldet.
Sie haben aber nichts zu den Zitaten geantwortet?
Ich habe mich dagegen gewehrt, in so eine „An die Wand, wo sind die Quellen?“-Situation zu kommen. Weil Winkler gegen unser „Europa der Regionen“ argumentiert hat, wollte ich das ausdifferenzieren. Dass es uns natürlich nicht darum geht, Regionalnationalismus zu proklamieren. Das Entscheidende an der Römischen Rede von Hallstein von 1964 war, dass Hallstein offensichtlich vermeiden wollte, dass wir wieder in eine Situation kommen, wo große Nationalstaaten die kleinen Nationalstaaten dominieren und diese in wirtschaftliche Konkurrenz zueinander treten. Nichts passt besser auf die heutige Situation Europas als diese Befürchtung von Hallstein.
Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems in Österreich. Sie ist außerdem Gründerin des European Democracy Lab in Berlin.
Dann ist die Zitatfrage aber noch immer ungeklärt. Sie haben ein falsches Hallstein-Zitat auch in eigenen Texten verwendet: „Ziel Europas ist und bleibt die Überwindung der Nationen und die Organisation eines nachnationalen Europas.“
Ja, aber nicht mehr in jüngerer Zeit.
Sie haben es herausgenommen, als Sie gemerkt haben, die Quellen stimmen nicht?
Nein, ich habe die Quellen nie überprüft. Ich habe es auch gar nicht bewusst herausgenommen.
In Ihrem Beitrag zum Buch „Europa jetzt!“ von 2018 steht das falsche Hallstein-Zitat noch einmal drin, sogar mit einer Quellenangabe „Walter Hallstein: Die EWG im Jahre 1964“. Das Archiv der Europäischen Union in Florenz kennt den Titel nicht.
Okay. Dann kann es sein, dass Sie mich in der Falle haben. Ich schreibe sehr viele Artikel. Und dann schleppt man Versatzstücke mit sich herum, eine Art Zettelkasten, und dann schleicht sich so etwas ein wie ein Trojaner im Computer. Ich vermute, dass ich das Zitat aus Texten von Robert habe und mit einer Quellenangabe zitiert habe, die ich nicht überprüft habe.
Es gibt noch ein zweites Zitat, auf das Menasse und Sie sich öfter berufen, von EU-Gründervater Jean Monnet. Demnach soll Monnet gesagt haben, dass „nationale Interessen nichts anderes sind als die kurzsichtigen ökonomischen Interessen nationaler Eliten, deren Befriedigung die eigene Population und die Populationen anderer Nationen in der Buchhaltung dieser Ökonomie zu Abschreibposten, im konkreten Leben zu Opfern macht“. Menasse sagt, das sei vermutlich aus Monnets Autobiografie. Dort steht es aber nicht.
Das ist auch ein Satz aus dem Menasse-Fundus, den ich übernommen habe, weil er plausibel ist. Ich war 1994 Mitarbeiterin im Büro des CDU-Bundestagsabgeordneten Karl Lamers. Damals wurde das sogenannte Lamers-Papier publiziert. Da steht – aus dem Gedächtnis zitiert – der Satz „Bis die Franzosen verstanden haben, dass die Nationalstaaten nur noch eine leere Hülse sind“ drin. Das sagt heute weder ein Jens Spahn noch eine Annegret Kramp-Karrenbauer noch sonst jemand. Daran kann man sehen, wie sich über 30 Jahre hinweg die Europadebatte verschoben hat. Und es erklärt die Plausibilität solcher Sätze für mich. Ich bin in einer Bundesrepublik sozialisiert worden, die ein politisches Europa als Staatsräson verhandelt hat.
Aber Sie sind Wissenschaftlerin. Die beiden Zitate spielen immer wieder eine Rolle in Ihrer Argumentation. Warum schauen Sie die Quellen nicht nach?
Das war Nachlässigkeit von mir, dafür entschuldige ich mich. Das hat mir schon geschadet und wird mir weiter schaden. Vielleicht habe ich die Quellen nicht nachgesehen, weil sich die Zitate fest im Gedächtnis verankert haben. Etwas, das man nicht mehr infrage stellt und auch lange Zeit von niemandem infrage gestellt wurde. Bis sich die Einstellung zu den Zitaten ändert, sodass auf einmal jemand anfängt nachzubohren – weil es auf einmal ein Interesse gibt, eine bestimmte europäische Erzählung infrage zu stellen.
Heinrich August Winkler vertritt in der Europafrage schon lange eine andere Position als Menasse und Sie. Ihm fällt Ihr Zitat irgendwann auf, er schreibt den Spiegel-Artikel. Als Ansgar Graw eines Ihrer Zitate noch einmal in der Welt verwendet, ruft Winkler auch bei ihm an. Dann beginnt die Debatte.
Und dann ist Patrick Bahners in der FAZ noch darauf eingestiegen. Ich kann mich nur wiederholen – die Zitate zu verwenden war unzulässig, und ich zahle einen Preis dafür.
Was Menasse und Sie mit den beiden Zitaten betrieben haben, könnte man mit dem britischen Historiker Eric Hobsbawm „Invention of tradition“ nennen: Hobsbawm hat das vor allem auf Nationalstaaten bezogen, die eine Vorgeschichte erfinden, um sich zu legitimieren. Sie machen das ironischerweise für die post-nationale EU. Um zu begründen, warum die Nationalstaaten obsolet seien, erfinden Sie Zitate der Gründerväter, die eben das gedacht hätten. Wir alle müssten nur zu den Wurzeln der EU zurück, lautet Ihre Argumentation.
Postnational ist kein Begriff von mir. Nachnational ist der Begriff von Robert Menasse, aber nicht meiner. Das ist mir wichtig. Nachnational klingt schon nicht gut, so fleischlos.
Jedenfalls geht es um ein Europa, das die Nationalstaaten überwinden soll. Menasse und Sie sagen, das haben die Gründerväter gewollt. Dann haben wir es vergessen.
Gut, die Grauzone ist irgendwo dazwischen. Hallstein hat definitiv keine wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Nationalstaaten gewollt, wenn ein Europa zugunsten der Bürger gemacht werden soll. Und es gibt doch nicht nur Hallstein und Monnet. Es gab Robert Schuman und Altiero Spinelli. Es gab das Hertensteiner Programm, das Manifest von Ventotene. Es tut mir leid, wenn mein Diskursangebot jetzt diskreditiert ist. Aber die Europäische Republik, die ich vorschlage, bedeutet die Verwirklichung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger als Voraussetzung für eine europäische Demokratie. Das ist mein Diskursangebot seit 2012. Dafür finde ich belastbare Quellen im Hertensteiner Programm von 1947 und im Manifest von Ventotene 1944.
Sie haben der Welt gesagt, es ginge Ihnen inzwischen nur noch darum, „Nation nicht ethnisch einzugrenzen“.
Mein Buch „Warum Europa eine Republik werden muss“ hat eine zentrale Forderung: Wenn wir auf diesem Kontinent eine europäische Demokratie begründen wollen, müssen die Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt sein. Gleich bei Wahlen, gleich bei Steuern, gleich beim sozialen Zugang. Als gleichberechtigte Bürger könnten sie der eigentliche Souverän des politischen Systems Europa werden – und nicht mehr der EU-Rat. Das würde alle heutigen Konflikte vom Brexit bis zur italienischen Krise lösen. 2017 habe ich „Der neue Bürgerkrieg“ geschrieben mit der These: Wir haben keine Renationalisierung, die Nationen sind stattdessen alle entlang der europäischen Frage gespalten. Großbritannien durch den Brexit. In Frankreich: Front National gegen Macron. In Deutschland: Pulse of Europe gegen Pegida. Das liegt auch daran, dass es eine Verschiebung von einer zivilen Definition einer Nation zu einer völkisch-ethnisch-identitären gegeben hat. Erinnern Sie sich, als Heiko Maas bei Günther Jauch war und Björn Höcke seine Deutschlandfahne ausgepackt hat?
Ja.
Maas rückte angewidert weg, als Höcke sich auf die Fahne setzte. Ich habe zu Hause gedacht: Mein Gott, er hätte sagen müssen: Herr Höcke, geben Sie mir ein Stück von der Fahne ab, ich habe auf diese Fahne einen Eid geschworen, damit diese Fahne Ihnen die Meinungsfreiheit garantiert, die Sie gerade genießen. Sie sind nicht das Volk, ich bin es auch.
So ähnlich fordert das auch der US-Historiker Mark Lilla.
Lilla ist einer der klügsten liberalen Denker. Er will einen New Republicanism. Der Republicanism definiert die zivile Komponente von Nation. Kürzlich gab es in den USA eine linke Demonstration gegen den Trump’schen Protofaschismus. Jemand brachte die US-Fahne als Fahne der Freiheit gegen den Trump’schen Populismus mit – und ist von seinen linken Freunden angegriffen worden. Das ist der Punkt: Which eye is your eye on the flag? Denken Sie dabei an das Trump’sche „America first“, oder ist die Fahne noch die Freiheit der Vereinigten Staaten? Das hat Maas in dieser Situation verbaselt. Er hat die Fahne der Bundesrepublik Deutschland kampflos Höcke als Deutschlandfahne überlassen. Die Fahne gehört jetzt den Populisten. Aber wir brauchen die Fahne als republikanische Fahne zurück. Und deswegen arbeite ich ja auch über eine Europäische Republik.
Wie geht das mit Ihren Vorstellungen von Europa zusammen – wollen Sie den Nationalstaat noch überwinden?
Die Nationalstaaten in ihrer heutigen Verfasstheit. Für einen europäischen Nationalstaat, wenn wir so nennen wollen, bräuchten wir eine vollständige Parlamentarisierung Europas. Das ist nicht utopisch. Auch Manfred Weber, der jetzt Spitzenkandidat für die EVP-Fraktion ist, hat das vor Kurzem in seinem Interview im Spiegel gefordert. Außerdem brauchen wir die „Institutionalisierung von Solidarität“ auf europäischer Ebene. Genau das ist die Definition einer Nation von Marcel Mauss. Heute sind die Sozialsysteme in den heutigen Nationalstaaten organisiert. Manchmal wünsche ich mir Helmut Kohl zurück. Er hat verstanden, dass europäische Errungenschaften institutionalisiert werden müssen. Jemanden wie ihn bräuchten wir jetzt für die europäische Arbeitslosenversicherung oder den europäischen Mindestlohn.
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