Politologin über Lage in Ägypten: „Kriege fallen nicht vom Himmel“
Das Militär lasse die Ägypter bewusst aufeinander losgehen, sagt die Politikwissenschaftlerin Cilja Harders. Alle Seiten handelten verantwortungslos.
taz: Frau Harders, was passiert momentan in Ägypten?
Cilja Harders: Seit dem Abgang Husni Mubaraks 2011 gibt es in Ägypten ein zähes Ringen zwischen denen, die tatsächliche Veränderung wollen, und denen, die genau das fürchten und bekämpfen. Die sogenannte Straße hat sich gegen Mubarak gestellt, später gegen das Militär, das ja nach Mubaraks Abgang an der Macht war, und nun gegen Mohammed Mursi.
Diese Unzufriedenheit hat das Militär genutzt. Jetzt hat es wieder die Oberhand und spielt mit dem Feuer. Es ordnet eine massive Gewaltanwendung gegen die Opposition an, die ihrerseits ebenfalls Gewalt anwendet. Beide Seiten handeln verantwortungslos.
Was ist das Kalkül des Militärs?
Das Kalkül ist, die einzige ernstzunehmende Opposition im Land umfassend auszuschalten. Dabei sehen wir Methoden, die wir noch nicht einmal aus Zeiten Mubaraks kennen. Dass über 500 Menschen auf offener Straße einfach erschossen oder schwer verletzt werden? Das ist neu. Die Sprache der Politik ist derzeit eine Sprache des Krieges, mit der der politische Feind dämonisiert und dehumanisiert wird. Die Muslimbrüder dagegen bezeichnen die Regierung und das Militär als Mörder.
Aus der Bevölkerung erhält das Militär Unterstützung. Besonders die Jugendbewegung Tamarud scheint das Militär bedingungslos zu decken.
ist Professorin für Politikwissenschaft an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients der Freien Universität Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Transformationsprozesse und Autoritarismus in der arabischen Welt sowie Geschlechterforschung.
Tamarud hat mit einer Unterschriftenkampagne gegen Mursi auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung reagiert. Es gibt Berichte, nach denen die Initiative vom Militär und den Geheimdiensten unterstützt wurde. Da ist sicher was dran. Trotzdem ist eine friedliche Unterschriftensammlung ein sinnvolles und legitimes Mittel, Protest auszudrücken und zu organisieren.
Aber ich bin sehr unglücklich darüber, dass sich die Bewegung kritiklos hinter das Militär stellt und sich an der Dämonisierungskampagne gegen die Muslimbrüder beteiligt, die sie als protofaschistoide Gruppierung darstellt. Was mir aber wirklich Sorgen macht, ist der aktuelle Aufruf, Bürgerwehren zu gründen.
Tamarud hat die Bevölkerung aufgerufen, ihre Häuser, Moscheen und Kirchen vor Attacken der Islamisten zu schützen. Ist das nicht verständlich?
Ich will Sicherheitskräfte sehen, nicht Bürger, die Polizeiaufgaben übernehmen. Was Tamarud macht, ist naiv und extrem riskant. Solche Aufrufe öffnen einer Dezentralisierung von Gewalt Tür und Tor. Es ist ein großer Unterschied, ob ich auf den Tahrirplatz gehe, um zu demonstrieren, oder womöglich meinen Nachbarn angreife, weil ich ihn verdächtige, Gewalt auszuüben. Da es auch seitens der islamistischen Kräfte schon zu Übergriffen gekommen ist, ist die Gefahr der Eskalation sehr groß. Dass das Militär das zulässt, zeigt seine Bereitschaft, Ägypter auf Ägypter losgehen zu lassen.
Neben Tamarud finden sich unter den Mursi-Gegnern auch Gruppen, die das Militär scharf kritisieren. Die Islamisten der salafistischen Nur-Partei gehören dazu oder die Bewegung des 6. April, die 2011 maßgeblich zum Sturz Mubaraks beitrug. Geben Sie denen eine Chance?
Eine kleine. Das Militär ist aber in einer Position der Stärke: Neben weiten Teilen der Bevölkerung hat es ja derzeit auch die liberale Opposition fast geschlossen hinter sich. Vizepräsident Mohamed ElBaradei, der am Mittwoch zurückgetreten ist, bleibt bisher eine Ausnahme.
Seit Mittwoch greifen vermeintliche Islamisten Regierungsgebäude und Kirchen an. Es gibt jedoch Stimmen, die die Angriffe angeheuerten Schlägertrupps in die Schuhe schieben.
Das ist absolut möglich und trifft sicherlich in bestimmten Fällen zu. Man kann der Regierung hier nicht trauen. Aber natürlich ist nach den Geschehnissen der letzten Tage die Gewaltbereitschaft bei den Islamisten auch sehr hoch.
Welche Rolle spielt die konfessionelle Komponente in dem Konflikt?
Konfessionelle Themen spielen keine Rolle, aber die christliche Minderheit hat sich hinter den Armeeführer Abdel Fattah al-Sisi gestellt. Der koptische Papst Tawadros II. war auch anwesend, als al-Sisi am 3. Juli den Putsch verkündete.
Nun spielen die Muslimbruderschaft und das islamistische Spektrum auf der antichristlichen Klaviatur. Leider gibt es auch hier eine traurige Tradition aus der Mubarak-Ära, in der Gewalt gegen die Minderheit hingenommen wird und die Christen zu Sündenböcken gemacht werden.
Wer greift denn die Kirchen an?
Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Es gibt unterschiedliche Quellen. Dem Innenministerium traue ich nicht mehr. Menschenrechtsgruppen machen verschiedene Gruppierungen oder Individuen verantwortlich, auch Aktionen von Provokateuren aus dem Geheimdienst hat es schon gegeben. Im islamistischen Spektrum gibt es Personen, die gegen Christen hetzen, zum Boykott von christlichen Geschäften aufrufen und mehr. In einer solchen Situation kommt es schnell zu Gewalt.
Es heißt oft, es gebe einen starken nationalen Zusammenhalt in Ägypten. Doch der bröckelt. Halten Sie einen Bürgerkrieg für möglich?
Nationen fallen nicht einfach auseinander und Kriege fallen nicht vom Himmel. Das Bröckeln des nationalen Zusammenhalts ist das Ergebnis eines langen Prozesses mit vielen Gewaltvorfällen. Die Gefahr eines Bürgerkriegs wird leider realer. Aber noch sind weite Teile der Bevölkerung nicht bewaffnet und bereit, einander anzugreifen. Noch hat das Militär die meisten Waffen, und das scharfe Vorgehen wird von vielen für legitim und notwendig gehalten.
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