Politologe zu Ukraine-Wahlsieger Selenski: „Die wollen echte Veränderungen“
Erst Komiker, bald Präsident der Ukraine: Wolodimir Selenski wird vieles ändern, sagt Politologe Wolodimir Fesenko. Doch er muss mit starkem Widerstand rechnen.
taz: Herr Fesenko, Wolodimir Selenski ist mit über 70 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten der Ukraine gewählt worden. Hat Sie das, auch in dieser Höhe, überrascht?
Wolodimir Fesenko: Ich hätte das lange Zeit nicht erwartet. Im Februar jedoch war deutlich geworden, dass Selenski der Sympathieträger der Bevölkerung ist. Man wollte in der Gesellschaft genau so einen Kandidaten haben. Zwei Tage vor der Stichwahl wurde mir klar, wie hoch Selenski gewinnen wird, und so habe ich ein Ergebnis von 70 zu 30 Prozent vorhergesagt. Poroschenko hat einfach den Wahlkampf in den drei Wochen vor der Stichwahl schlecht geführt. Und vor diesem Hintergrund darf man sich über das Ergebnis nicht wundern.
60, Dozent für Geschichte und Politologie. Er leitet das politische Analyseinstitut „Penta“.
Was erwarten Sie vom neuen Präsidenten?
Noch ist es schwer, eine Prognose darüber abzugeben, was für ein Präsident er sein wird. Möglicherweise wird er ein schwacher Präsident. Er hat keine politische Erfahrung und ist nicht darauf vorbereitet, diese neue Arbeit in ihrem ganzen Umfang aufzunehmen. Er ist ja immer noch dabei, seine Mannschaft zusammenzustellen. Das sind alles Sollbruchstellen. Gleichzeitig sind die Leute aus seinem Umfeld ehrliche Jungs. Die wollen wirklich echte Veränderungen. Und die werden ganz anders handeln als die derzeitigen Machthaber. Und selbst wenn sie keine großen Veränderungen umsetzen sollten, werden sie so eine Art Katalysator von Veränderungen sein.
Gesetzgebung
Allen Gesetzentwürfen und Personalvorschlägen muss das Parlament zustimmen. Der Präsident kann das Parlament aber auffordern, bestimmte Gesetzentwürfe vorrangig zu behandeln. Und er kann ein Veto gegen Gesetze einlegen, das nur mit einer Zweidrittelmehrheit zurückgewiesen werden kann.
Auflösung des Parlaments
Der Präsident ist befugt, das Parlament aufzulösen, wenn dieses nicht innerhalb von 4 Wochen nach einer Wahl oder von 60 Tagen nach dem Rücktritt einer Regierung eine neue Regierung gebildet hat – oder wenn binnen 30 Tagen nach einer ordentlichen Parlamentssitzung keine weitere Sitzung stattfand.
Sitzungen und Rederecht
Der Präsident hat immer Rederecht und darf auch an nichtöffentlichen Sitzungen des Parlaments teilnehmen.
Poroschenko hat eine mächtige eigene Fraktion im Parlament. Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche fraktionslose Abgeordnete, die ihm loyal sind. Selenski hat keine Fraktion im Parlament. Wie soll er mit dem Parlament zusammenarbeiten?
Diese Situation erfordert viel Verhandlungsgeschick. Theoretisch kann er zwar das Parlament auflösen. Aber das würde neue Probleme und Konflikte mit sich bringen. Ich weiß, das wird diskutiert, aber ich habe dagegen Bedenken. Das ist nicht gut von der Außenwirkung und auch praktisch kaum umsetzbar. Das Gesetz erlaubt eine Auflösung des Parlaments nur bis sechs Monate vor den Parlamentswahlen. Da diese für den 27. Oktober angesetzt sind, darf eine Auflösung des Parlaments also nur bis zum 27. Mai verfügt werden.
Aber irgendwie muss er doch jetzt schon mit dem Parlament konstruktiv zusammenarbeiten.
Auch ohne Wahlen wird sich sehr zeitnah eine kleine Gruppe von Abgeordneten finden, die dem neuen Präsidenten loyal gegenüber sind. Und das erleichtert Verhandlungen. Trotzdem: Der neue Präsident muss mit Widerstand rechnen. Und der wird vor allem von Poroschenko und Poroschenko-treuen Politikern kommen. Klar ist: Der neue Präsident wird das Parlament nicht unter seiner Kontrolle haben. Und das heißt, er wird es sehr schwer haben, im Parlament seine Entscheidungen durchzubringen. Das betrifft insbesondere Personalentscheidungen und Gesetzentwürfe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles