Politologe über Russland und China: „Moskau nutzt seine einzige Chance“
Der Politologe Sebastian Heilmann erklärt die Hinwendung Russlands zu China – und was das für den Rest der Welt bedeutet.
taz: Kritiker der europäischen Russlandpolitik warnen, Moskau werde in die Arme Pekings getrieben. Zu Recht?
Sebastian Heilmann: Das kann man so nicht sagen. Russland nutzt die einzige Chance, die es zurzeit hat, seine Isolation zu durchbrechen: Es legt mit China, dem großen Partner im Osten, viele gemeinsame Programme auf und kooperiert auch in internationalen Organisationen stärker mit den Chinesen.
Ist das eine Folge der europäischen Sanktionen?
Nicht nur. Die Russen sind wirtschaftlich in einer Notsituation – und die Chinesen haben die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen.
Ist es denn aus europäischer Sicht ein Problem, wenn beide sich gut verstehen?
Problematisch würde es dann, wenn sich beide – etwa in internationalen Organisationen – bei allen Vorstößen der Europäer querstellen und miteinander verbünden.
Ist China Nutznießer des Ukrainekonflikts?
Bislang sieht es so aus, als hätte China durch den Konflikt große Spielräume gewonnen. Peking hat – etwa in der UNO – mit Russland einen Verbündeten bekommen, der auf China angewiesen ist. Was jetzt neu ist: In allen internationalen Streitigkeiten, beispielsweise mit den USA, stimmen sich China und Russland ganz eng ab. Bislang war das nur bei bestimmten Themen so – etwa in Bezug auf Syrien oder den Iran.
49, ist Gründungsdirektor der Berliner Denkfabrik Mercator Institute for China Studies (Merics) und Professor für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier.
Bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über die russische Annexion der Krim hat sich China aber enthalten.
Ja, aus chinesischer Sicht gehört es zu den Grundprinzipien, dass territoriale Grenzen nicht verschoben werden. Doch insgesamt unterstützt Peking ganz klar die russischen Positionen.
Ändert sich wirtschaftlich etwas zwischen beiden Ländern?
Auf den ersten Blick ist das eine perfekte Partnerschaft: China kann Konsumgüter liefern, die Russland nicht hat, und Russland liefert Energie und Rohstoffe. Allerdings sind dafür gigantische Investitionen notwendig – also Pipelines für Öl und Gas, Straßen und Bahnlinien, um all das zu transportieren, was sich jetzt anbahnt. Darum gab es lange Streit, erst jetzt kam der Durchbruch. Man plant gemeinsame Investitionen, die vorher undenkbar waren. Der russischen Seite fällt es natürlich nicht so leicht, 50 Milliarden Dollar für eine neue Pipeline aufzubringen. Da kann China einspringen. Russland bekommt dadurch einen neuen Markt, und China profitiert jetzt auch noch davon, dass die Preise verfallen.
Für Russland ist China also eine gute Alternative zu Europa?
Man kann Moskaus Abwendung von Europa auch als Unabhängigkeitserklärung sehen: Wir haben hier andere Möglichkeiten, und die sind stark, mindestens so stark wie Europa.
Hierzulande sind die Geschäfte voller Waren aus China. Ist das auch in Russland so?
Das nimmt jetzt zu. Russland hat außerdem viele Bereiche geöffnet, die bisher nicht zugänglich waren, das lukrative Kreditkartenbusiness zum Beispiel. Visa- und Master-Card sind in Russland jetzt unter Beschuss, und die chinesische Union-Pay ist nun voll in den Markt reingegangen. Oder beim Aufbau von Telekommunikationsinfrastruktur: Da hat China Firmen, die die sehr schnell hinstellen können.
Ein ungleiches Verhältnis!
Ja. Solange China stabil bleibt, ist zu erwarten, dass es innerhalb der nächsten zehn Jahre zum eindeutig dominierenden Partner wird. Da wird es auch Konflikte geben. Ostsibirien beispielsweise ist dünn besiedelt. China übt schon jetzt enormen Druck auf die Grenzregion aus. Was passiert, wenn Russland instabil wird oder gar zerbricht? Darüber denkt man in China nach. Und das andere Konfliktfeld ist Zentralasien, wo China gegenwärtig seine Präsenz massiv ausbaut – ein Schneise durch den russischen Vorhof schlägt.
Was tut China denn dort?
China will einen gewaltigen Logistik- und Handelskorridor durch Zentralasien legen, mit unglaublichen Investitionen von 50 bis 100 Milliarden Dollar. Im Grunde geht es um die Verbindung von Zentralasien über Südasien bis nach Europa. Das steht nicht nur auf dem Papier, Eisenbahn und Straßenverbindungen sind schon im Bau. Das Ganze bekommt jetzt einen Riesenschub.
Wie reagiert Russland?
Die diplomatischen Verbindungen nach Moskau sind traditionell eng, aber die zentralasiatischen Staaten sind äußerst empfänglich für diese chinesischen Avancen. Wenn man dort hinkommt und sagt, wir bauen euch eine komplette Infrastruktur für 30 Milliarden Dollar, ist das für Länder, die am Rande der wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit stehen, unwiderstehlich.
Gibt es andere Beispiele der Kooperation zwischen Peking und Moskau?
China baut derzeit zu vielen internationalen Organisationen, die westlich dominiert sind, Parallelstrukturen auf. Es macht dies gemeinsam mit Russland. Dazu gehört etwa die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, wo man unter anderem gemeinsame Strategien gegen den islamischen Terrorismus entwickeln will, oder die Cica, eine Organisation für vertrauensbildende Maßnahmen im asiatischen Raum.
Auch militärisch arbeiten beide ja eng zusammen: 2015 ist sogar ein gemeinsames Marinemanöver im Mittelmeer geplant.
Das ist neu für China und vor allem eine Machtdemonstration. Damit zeigt Peking dem Westen: Wir sind in eurem Vorhof präsent. Wir können global agieren, und ihr seid nicht mehr diejenigen, die das als Alleinstellungsmerkmal haben. Das ist ein Bruch und letztlich ein Ende dieser ganzen Vorstellungen, die wir in der Nach-Kalter-Kriegs-Zeit hatten, dass wir im Westen die Regeln machen und die Weltmeere beherrschen.
Ist das ein Grund zur Sorge?
Das kann zu Konflikten, aber auch zu mehr Sicherheit führen. Aus deutscher Sicht ist es ja immer gut, wenn die Handelswege sicher und offen gehalten werden. Da haben China und die USA bisher gemeinsame Interessen.
Wo kaufen die Chinesen ihre Waffen?
Auch da hat sich einiges verändert: Russland hatte sich ja lange geweigert, bestimmte Steuerungssysteme und bestimmte Komponenten für die neuesten Flugzeuggenerationen an China auszuliefern und die Software dafür offenzulegen. Das ist jetzt aber erheblich geöffnet worden. China hat jetzt auch in dem Bereich einen großen Sprung zu erwarten. Chinas Fernsehen berichtete kürzlich über ein besonderes Radarsystem zur Ortung für Gegenmaßnahmen bei Raketenangriffen. Das hat Russland ausgeliefert.
So etwas war früher tabu?
Ja, so was wollte Russland nicht liefern. Da haben sich die Russen jüngst sehr geöffnet. Auch in der Raumfahrt gibt es jetzt konkrete Kooperationen. Den USA bereitet das natürlich Sorge: Man befürchtet, China könnte im Konfliktfall die gesamte satellitengestützte Kommunikation der Amerikaner ausschalten. Das sind so die neuen Kampfgebiete. Auch in der Raumfahrt ist die Kooperation für Peking sehr wertvoll, da diese immer auch eine militärische Komponente hat. Das sind Bereiche, die man nicht unbedingt sieht, aber für China sind es ganz wichtige Betätigungsfelder.
Haben die Russen jetzt auch besseren Zugang in China?
Die Russen haben sich sehr geärgert, dass ihre wichtige und riesige Software-Sicherheitsfirma Kapersky in China auf der Liste derjenigen Unternehmen steht, die nicht im öffentlichen Bereich eingesetzt werden dürfen. Sie werden damit aus chinesischer Sicht genauso als Sicherheitsrisiko eingestuft wie die amerikanischen Cisco-Systems, Google und andere. Die Russen hatten schon gedacht, China sei jetzt ihr Markt. Aber das wollen die Chinesen nicht.
Unter Mao studierten ja die Kinder von Chinas Parteielite in Russland. Ist das heute noch so?
Kaum. Die Kinder chinesischer Führungskader sind in England und den USA, manchmal auch in Deutschland, aber die meisten sind anglophon, gehen etwa auch nach Australien oder Kanada. Umgekehrt ist mir auch nicht bekannt, dass die Zahl russischer China-Spezialisten zugenommen hätte. Es gibt in Moskau nur ein paar Dutzend Leute, die China kompetent betreuen können.
Wieweit hat sich die Welt denn durch die engere Zusammenarbeit zwischen Peking und Moskau inzwischen verändert?
Wir müssen uns klar werden, dass die Zeit der westlichen Dominanz in internationalen Institutionen jetzt wirklich vorbei ist. Aus chinesischer Sicht gibt es gute Gründe, alternative Organisationsformen zu entwickeln, weil die Chinesen in den traditionellen Institutionen – wie etwa dem Internationalen Währungsfonds – nicht das Gewicht bekommen, das ihnen zusteht. Das bedeutet aber auch, dass der Westen die Kontrolle über die Regelsetzung in diesen internationalen Institutionen auf Dauer wird teilen müssen.
Verstehen die Europäer das?
Das ist in den Köpfen der meisten Leute hier überhaupt noch nicht drin. Man muss auf neue Kräfte wie China Rücksicht nehmen. Man hatte sie eingeladen, mitzumachen und sich anzuschließen – aber nicht mitzureden. Doch diese Zeit ist vorbei. Die Europäer sind an dieser Stelle allerdings weiter als die Amerikaner.
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