Politologe über Katalonien: „Die nationale Frage überdeckt alles“
Wie konnte sich der Streit zwischen Madrid und Barcelona so zuspitzen? Politologe Martín Alonso Zarza über die Hintergründe des Konflikts.
taz: Katalonien will über die Unabhängig abstimmen. Die Polizei schießt mit Gummigeschossen in die Menge. Wie konnte es in Spanien an diesen Punkt gelangen?
Martín Alonso Zarza: Die Lage spitzt sich ab 2006 zu. Damals wurde in Katalonien ein neues Autonomiestatut ausgearbeitet. Die Partei des heutigen spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy – die konservative Partido Popular (PP) – sammelt Unterschriften dagegen und zog vor das Verfassungsgericht, wo das Statut gestoppt wird. Hinzu kommt die Wirtschaftskrise, die die zu jenem Zeitpunkt in Spanien und in Katalonien regierenden Sozialisten in ihrer Glaubwürdigkeit schwer traf. 2011 entsteht dann die Bewegung der „Empörten“, die Protestbewegung 15M. Die Unabhängigkeitsbewegung profitierte von dieser Unzufriedenheit.
Inwiefern?
Aus dem „Sie vertreten uns nicht“ des 15M wird so eine Art „Spanien vertritt uns nicht“. Zusammen mit dem Slogan „Spanien bestiehlt uns“ bildet dies die Grundlage für das, was wir heute erleben.
Wie kann diese Empörung zu einer Bewegung führen, der mit der PDeCat des Autonomiepräsidenten Charles Puigdemont auch jene Partei angehört, die für die Sparpolitik und die Korruption in Katalonien steht?
Klar ist die PdeCat die Partei der Korruption. Gegen die gesamte Familie des ehemaligen katalanischen Regierungschefs und Gründer der PdeCat-Vorgängerpartei, Jordi Pujol, wird ermittelt. Doch bei einer Mischung aus nationalistischen Ideen und sozialen Beweggründen, ist die nationale Frage oft stärker und überdeckt alles andere.
Welche Fehler hätte Madrid vermeiden können oder vermeiden müssen, um nicht in die heutige Lage zu kommen?
Wenn wir heute von Madrid reden, reden wir vor allem über die Regierung Rajoy seit 2011. Das Hauptargument, das Rajoy den Befürworten der Unabhängigkeit geliefert hat, ist jene Unterschriftensammlung und Demonstrationen gegen das Statut. Die Katalanen sehen dies als schweren Angriff an. Hinzu kommt, dass die PP, als sie an die Regierung kam nicht in der Lage war, politische Mechanismen zu entwickeln, um auf die Forderungen der Katalanen zu antworten. Stattdessen setzte die PP ausschließlich auf die Justiz und die Institutionen.
65, ist Doktor der Politikwissenschaften und Autor der Trilogie „El Catalanismo – del éxito al éxtasis“ – („Der Katalanismus - vom Erfolg zur Ekstase“). Alonso Zarza lebt im nordspanischen Santander.
Ist eine Lösung des Konfliktes überhaupt noch möglich?
Dafür müssten alle Parteien gemeinsam eine Verfassungsreform ausarbeiten, die es erlaubt die Meinung der Menschen in den einzelnen Regionen kennen zu lernen.
Sie meinen damit die Möglichkeit eines Referendums in beiderseitigem Einverständnis?
Es muss darum gehen, verschiedene Aufgaben einer Verfassung unter einen Hut zu bekommen. Zum einen muss sie gleiche Rechte für alle garantieren und gleichzeitig Platz für unterschiedliche Sensibilitäten bieten. Quebec ist dafür ein gutes Beispiel. Aber dafür ist es notwendig, dass alle Parteien gemeinsam handeln, dass sie aus ihrer jeweiligen Seifenblase, die dazu führt, den anderen nicht wahrzunehmen, herauskommen. Alles andere würde uns sehr teuer zu stehen kommen, in Spanien und in Europa.
Das Referendum in Katalonien
Angenommen es gelingt nicht, den Katalonienkonflikt gütlich zu lösen: Droht Spanien nun auseinanderzufallen? Ich denke da an die Basken, an Galicien.
Das ist nur schwer vorherzusagen. Aber wenn wir andere Fälle anschauen, können wir lernen, dass sich die Wogen auch wieder glätten können. Ich denke da an den Konflikt um ein neues baskisches Statut vor zehn Jahren, oder an die hitzigen Auseinandersetzung um die Quebec-Frage. Manchmal schlagen die Wellen hoch, und danach wird es dann wieder ruhig. Allerdings wird eine Lösung sehr sehr schwierig, wenn in solchen Momenten ein kritischer Punkt erreicht wird.
Haben wir diesen kritischen Punkt in Katalonien nicht bereits erreicht?
Das Bild der Polizei, der vielen Uniformen, schockiert. Nur wenn wir den Sonntag ohne weitere größere Auseinandersetzungen überstehen, sehe ich noch immer die Möglichkeit für eine Dialoglösung.
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