Politisches Buch zur Finanzkrise: Wer Schulden hat, wird regierbar
Die Finanzkrise ein Paradoxum? Maurizio Lazzarato versucht in seinem Essay „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ die Entwicklungen zu erklären.
![](https://taz.de/picture/168028/14/produktion22_dpa.jpg)
Als die Finanzkrise 2008 die Welt erschütterte, schien das Ende des Neoliberalismus eingeläutet. Selbst wirtschaftsnahe Zeitungen riefen nach politischer Kontrolle der Finanzmärkte, und so mancher Kommentator sah eine neue keynesianische Ära heraufziehen. Keine fünf Jahre später reiben wir uns verwundert die Augen.
Die private Aneignung öffentlichen Reichtums hat sich im Rahmen der Bankenrettung weiter beschleunigt. Nicht die Macht der Politik über die Finanzmärkte, sondern umgekehrt die der Finanzmärkte ist ausgebaut worden. Anstelle eines Green New Deal beherrschen Austeritätsprogramme das Bild.
Der italienische Theoretiker Maurizio Lazzarato unternimmt in seinem Essay „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ den Versuch, diese scheinbar paradoxe Entwicklung zu erklären. Lazzarato, wie Toni Negri als politischer Aktivist Ende der 1970er Jahre aus Italien nach Frankreich geflohen, geht von der These aus, dass Finanzspekulation und Schuldenexplosion nicht als Exzesse des Systems zu begreifen sind, die durch eine bessere Regulation verhindert werden könnten. Lazzarato fragt nach den Machtverhältnissen hinter den ökonomischen Kategorien.
Schulden sind für ihn in diesem Sinne nicht das Ergebnis zu hohen Ausgaben, wie es der Diskurs über den „verschwenderischen“ Südeuropäer nahelegt, sondern ein „strategisches Dispositiv“, mit dem Machtverhältnisse (zwischen Gläubigern und Schuldnern) etabliert werden.
Schulden sind kein einseitiger Mangel
Die Erkenntnis ist banal, aber wird in der politischen Debatte konsequent ignoriert: Schulden können nicht einseitig als Mangel begriffen werden, weil ihnen auch immer ein Vermögen gegenüberstehen muss. Lazzarato verweist an dieser Stelle auf eine These von Deleuze/Guattari: Nicht der Tausch (wie in liberalen Theorien) oder die Kontrolle der Produktionsmittel (wie im Marxismus), sondern das Schuldverhältnis sei der „Archetyp gesellschaftlicher Ordnung“.
Es begründe eine fundamentale Machtasymmetrie und sorge – durch die Verknüpfung ökonomischer Schulden mit der moralischen Schuld – für eine Subjektivierung der Ordnung. Die Besitzlosen sind keine Klasse mehr, sondern individualisierte Wirtschaftssubjekte, die Schuld auf sich geladen haben.
Lazzaratos Essay ist schon allein deswegen bemerkenswert, weil er eine Brücke spannt, die von Marx über Nietzsche und Foucault bis zu Deleuze/Guattari reicht. Ökonomie wird als soziales Verhältnis entschlüsselt, dieses jedoch auf der inneren Ökonomie des modernen Subjekts begründet, das sich moralisch selbst erzieht. Lazzarato fragt nach den gouvernementalen Techniken der Führung und Lenkung in der (neo-)liberalen Gesellschaft und postuliert schließlich eine Zentralität des Geldes.
Globale Lohnkonkurrenz
Einige seiner Argumente wären für die politische Debatte sehr hilfreich. So hat er recht, dass der finanzgetriebene Kapitalismus nicht einfach als Fehlentwicklung verstanden werden kann. Dass die Kapitalmärkte – im Übrigen noch unter dem demokratischen US-Präsidenten Jimmy Carter – dereguliert wurden, war eine Antwort auf die tiefe Krise des Fordismus.
Da es immer schwerer wurde, im Produktionsverhältnis selbst Gewinnzuwächse zu erzielen, suchte die Kapitalseite nach alternativen Akkumulationsmodellen. Die Deregulierung der Finanzmärkte bot hier einen Ausweg. Sie erleichterte Auslandsinvestitionen, setzte damit eine globale Lohnkonkurrenz in Gang und sorgte schließlich dafür, dass der in anderen Ländern erwirtschaftete Mehrwert als Gewinntransfer oder Anlage zurück in die globalen Finanzzentren floss.
Recht überzeugend ist auch Lazzaratos These, dass der finanzgetriebene Kapitalismus für eine neue Regierbarkeit sorgt. Die ökonomischen Verhältnisse werden als moralische Schuld verinnerlicht und festgeschrieben. Der Kredit, der immer auch eine Wette auf Noch-nicht-Gewordenes ist, „verschließt das Mögliche, indem (er) sich in die Zukunft projiziert“.
Eine solide Analyse des Neoliberalismus liefert der Essay nicht. Zu unsauber sind viele ökonomische Daten recherchiert, eine Debatte von Handlungsperspektiven fehlt völlig. Nichtsdestotrotz ein wichtiger Beitrag zeitgenössischer Gesellschaftskritik.
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