piwik no script img

Politisches Buch über AntisemitismusAnekdoten statt Analyse

Der Historiker Per Leo polemisiert in seinem Buch „Tränen ohne Trauer“ gegen „post-arischen-Streberzionismus“ beim Umgang mit der NS-Vergangenheit.

Die NS-Zeit sei „oft auf eine so hemmungslose Weise präsent“, sagt Leo Foto: Alexa Geisthövel

Per Leo hat ein neues Buch geschrieben, ein „radikales Buch“, so der Verlag. Leos Ausgangsbeobachtung: Die NS-Vergangenheit sei „in unserem Land oft auf eine so hemmungslose Weise präsent“, „dass sie allmählich […] dessen Entfaltung hemmt“. „Tränen ohne Trauer“ steht nicht nur, aber auch im Kontext der Debatte um das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus, von Rassismus und Antisemitismus und von Schoah und Kolonialverbrechen.

Leo betont: Ihm gehe es nicht um ein „Ende der ernsthaften Beschäftigung mit dem NS“ oder um die „Infragestellung von Rechtsstaat, Demokratie und Westbindung“, sondern lediglich um einen „prüfenden Blick auf eine Geste deutscher Selbstgefälligkeit“. Auf dem Spiel stehe nichts Geringeres als das Gelingen der „neuen Republik“. Worum genau geht es auf den knapp 250 Seiten?

„Tränen ohne Trauer“ berührt enorm viele Themen und Aspekte. So gibt es lesenswerte Abschnitte etwa zu den berühmten Reden von Richard von Weizsäcker (1985) und Martin Walser (1998) oder zum Berliner Holocaust-Mahnmal, um das, wie es bei dessen Jubiläumsfeier hieß, „uns“ andere Völker „beneiden“ würden. Auch die Kritik an neu-rechten Traktaten wie „Finis Germania“ oder Filmen wie „Der Untergang“ wird zu recht in Erinnerung gerufen. Auf den Begriff des „Gedächtnistheaters“, den Max Czollek in den letzten Jahren bekannt machte, bezieht Leo sich ebenfalls.

„Austerlitz“ und Alexander Kluge in der Liste

Interessant sind Per Leos Ausführungen zu Historikern, die ihn intellektuell prägten, indem sie seinen Blick zum Beispiel auf die Täterforschung oder den Stellenwert des biografischen Schreibens für eine produktive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verdeutlichten. In einer in den Fließtext eingebauten, teils ausführlich kommentierten Lek­türe­liste finden sich unter anderem W. G. Sebalds „Austerlitz“ und „Die Ausgewanderten“, Alexander Kluges „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. Mai 1945“ oder auch „Flughunde“ von Marcel Beyer.

Das Buch

Per Leo: „Tränen ohne Trauer“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021, 232 Seiten, 20 Euro

Insgesamt aber ist „Tränen ohne Trauer“ thematisch stark überladen. Zudem bleiben viele Ausführungen vage und anekdotisch oder sind schlicht unbelegte, undifferenzierte Behauptungen. Regelrecht eingeschossen hat sich Leo etwa auf Kri­ti­ke­r*in­nen von Achille Mbem­bes Einlassungen zu Israel, die Antisemitismusdefinition des International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und die Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestags.

Was genau ihn an alldem stört, führt Leo allerdings nur äußerst ungenau oder nur wenig überzeugend aus. Leo mahnt in „Tränen ohne Trauer“ immerfort, Sachverhalte in ihrer Komplexität zu begreifen. Genau das unterlässt er aber regelmäßig selbst.

Besonders problematisch wird es, wenn Leo dies alles mit schlechter Polemik verbindet – und das macht er in „Tränen ohne Trauer“ leider ziemlich oft, trotz der durchaus vorhandenen Zwischentöne. Leo zufolge herrsche hierzulande ein kompensatorischer, passiv-aggressiver, selbstgerechter „Entlastungszionismus“, ein „post-ari­scher-Streberzionismus“.

Leo greift Anitsemitismusbegriff an

Die in Deutschland angeblich so enorm wirkmächtige „Entgrenzung des Antisemitismusbegriffes“ sei nichts Geringeres als eine „begriffspolitische Kampagne“ zur „einseitigen Parteinahme für Israel“. Hierzulande würde man auf „den Dealer hereinfallen, der unserem Gewissen seinen gestreckten Stoff als ‚Antisemitismus‘ verkaufen will, nur weil er zu wissen meint, wie sehr wir darauf abfahren“.

Insgesamt verbinde sich, so Leo resümierend, eine „breite Mitte der Holocaustbetroffen­heit“ zusammen mit einer „links-rechten Verstrickung in den zionistischen Mythos“ und einer „historisch tief verwurzelten Feindseligkeit gegen ‚den‘ Islam“ zu einer neuartigen „deutschen Ideologie“. Irgendwie Teil dieses vage beschriebenen Komplexes seien, so insinuiert Leo, unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung oder „das vereinte Kommentariat der Landesrundfunkanstalten“. Erneut geht es in „Tränen ohne Trauer“ drunter und drüber.

Ein Dorn im Auge ist Leo vor allem Felix Klein, seit 2018 Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung. Klein wird von Leo auf äußerst unfaire und bizarre Weise angegangen, etwa als „ranghöchster Anti-Antisemit im Nachfolgestaat des Dritten Reiches“ oder als „Regierungsbeauftragte[r] zur Vernichtung des Antisemitismus“.

Kleins Denken und Handeln, so legt Leo nahe, sei bestimmt von „Identifikation mit den toten und Paternalismus gegenüber den lebenden Juden“ sowie von einer „Fixierung auf die Vergangenheit und Überforderung mit der Gegenwart“, nicht zuletzt von einem „um ‚Juden‘ zentrierte[n] Weltbild“. Was Felix Klein, dessen Arbeit vom Zentralrat der Juden in Deutschland unterstützt wird, auch im Zusammenspiel mit seinen KollegInnen in den Bundesländern bislang erreicht hat, diskutiert Leo nicht.

Rolle als rebellischer Polemiker

In solchen Passagen wird deutlich, wie sehr sich Leo gefällt in der Rolle als vermeintlich rebellischer Polemiker. Gleich zu Beginn von „Tränen ohne Trauer“ stellt sich Leo sogar in eine Reihe mit keinem Geringeren als Friedrich Nietzsche, da dieser ebenfalls der Leitfrage nachging, „wann der Umgang mit der Geschichte hilft und wann er schade“.

Immerhin konzediert Leo ironisch-witzelnd (aber, wie meistens im Buch, nicht lustig), er selbst sei „leider nicht der wirkmächtigste Denker seiner Epoche“, wozu ihm seine Frau nun auch mal zustimme. Dem Anspruch nach nimmt „Tränen ohne Trauer“ durchaus wichtige Fragen in den Blick – beantwortet werden diese aber auf insgesamt wenig überzeugende Weise.

Das Buch hilft in der Debatte nicht weiter.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Regelrecht eingeschossen hat sich Leo etwa auf Kri­ti­ke­r*in­nen von Achille Mbem­bes Einlassungen zu Israel, die Antisemitismusdefinition des International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und die Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestags.

    Was genau ihn an alldem stört, führt Leo allerdings nur äußerst ungenau oder nur wenig überzeugend aus"

    nun, das ist wohl nicht so schwer zu erraten: die "Antisemitismusdefinition des International Holocaust Remembrance Alliance" führt nicht selten zur denunziation eines jeden als antisemit, der kritik an der besatzungspolitik israels übt - wird also als totschlagargument verwendet

    daß auf der west bank apartheidstrukturen bestehen, war sogar schon in der taz nachzulesen und überzeugend belegt. daß boykott und sanktionen gegen israel nicht gleichbedeutend mit desen auslöschung als staat wären, ist mehr als offensichtlich. dennoch (nur zwei beispiele von vielen) trifft jeden die antisemitismuskeule, der einen boykott wegen apartheid fordert wie damals gegen südafrika

  • Offenbar ein Volltreffer ins Schwarze. Muss ich unbedingt lesen. Selbst die missgünstige Darstellung im Artikel bestätigt, dass der Buch-Autor wohl ganz richtig liegt. Und „post-ari­scher-Streberzionismus“ ist einfach nur genial. Wenn ich ein deutscher Jude wäre, würde ich den Missbrauch der Erinnerung an die Shoah zur Hetze auf Muslime & arabische Flüchtlinge jeden Tag mit Abscheu anprangern & mich angeekelt davon & von allen Deutschen, die dabei mitmachen, distanzieren.

    Kommentar gekürzt. Bitte achten Sie auf die Netiquette.

    Die Moderation