Politischer Diskurs ums Benehmen: Anstandtifa ist Handstandarbeit
Sachliche oder höfliche Kritik lässt sich leicht ignorieren. Aber emotionale Betroffenheitsbeiträge mag man auch nicht leiden: zu weinerlich.
T hrowback zu meinem letzten Podium vor Corona: Kaum hatte ich die Bühne verlassen, tätschelte eine Frau Ü30 meine Schulter. In Zukunft, riet sie mir, solle ich vor Auftritten ganz oft „ähm“ sagen, um es mir danach beim öffentlichen Reden verkneifen zu können. Sei professioneller. Ich bedankte mich für das unaufgeforderte logopädische Coaching und wies darauf hin, dass ich nie einen Anspruch auf Tagesschau-reife Sprechperformance hatte. Später kam noch eine ältere Dame auf mich zu und kritisierte im breiten, badischen Dialekt mein „unverständliches Deutsch“.
Die Veranstaltung war kein Filmabend, fleißig projiziert wurde trotzdem: Da saß dieser vorbildlich integrierte junge Mann mit Sakko und Empathie für besorgte Bürger:innen und Formulierungen wie „mit Verlaub“. Daneben ich, mit langen Nägeln, Tattoos, Kader-Loth-Shirt, Jogginghose (mit Bundfalte), zeitgenössischer Sprache. Da fühlten sich einige verpflichtet, mich mit Feedback wie nach einem Referat in der 3. Klasse zurechtzuweisen. Um die Assimilationsperformance meines Kollegen geht es nicht, ich hätte schließlich auch in Merkel-Drag kommen können. Der Subtext des Abends war jedoch nicht Mode, sondern Anstand.
Genau wie beim Style wird er einigen Menschen zu- und anderen abgesprochen. Unanständig ist etwa die Wissenschaftlerin und Rapperin Dr. Reyhan Şahin, die nicht nur selbstbestimmt über ihre Sexualität spricht, schreibt und rappt, sondern auch noch wie eine Schlampe rumläuft. Als Rapperin okay, aber in der Akademie?!
Oder die Kabarettistin Idil Baydar neulich bei Maybrit Illner, die komischerweise beim Thema Polizeigewalt aufgewühlt war. Nur, weil die Spuren der zahlreichen Morddrohungen gegen sie auch zur hessischen Polizei führen, muss sie doch nicht gleich so emotional reagieren. Die anderen Gäste – sachliche und ruhige Männer in Sakkos – waren von ihrer Wut ganz verängstigt. Und dann ist da Bodo Ramelow, Thüringens Ministerpräsident, der einem AfD-Abgeordneten den Mittelfinger zeigte, nachdem dieser die NSU-Mordserie verharmloste. Unverschämt!
Was darf Anstand?
Regeln des Anstands statt Herrschaftskritik haben in nazi-positiven Milieus (so nennt Autorin Amina Aziz die bürgerliche Mitte, die gern mit Nazis redet, feiert und Waldspaziergänge macht) Tradition, doch das Phänomen wird dadurch nicht erträglicher. Diese Respectability Politics gehen über die Maßregelung von Ton und Ausdruck hinaus. Sachliche oder höfliche Kritik lässt sich leicht ignorieren. Emotionale Betroffenheitsbeiträge mag man auch nicht so leiden: zu weinerlich. Und wer frech wird, kommt erst mal auf die stille Treppe. Eine dringliche Frage lenkt vom Inhalt ab: Wie reden wir eigentlich miteinander?!
Was darf Anstand? Antisemitismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit oder Sexismus anscheinend schon. Integrität, Gerechtigkeit oder das Zurückstecken des eigenen Egos hingegen sind optional. Klar. Ist schließlich kein moralischer Kompass, sondern Silencing.
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