Politikwissenschaftler über Putin: „Ein Meister der Verstellung“
Russlands Präsident diskutiert mit Prominenten, wie er seinen Staat umbauen will. Waleri Solowei über einen großen Taktiker und seine EU-Politik.
taz: Herr Solowei, seit der Rede des Präsidenten Wladimir Putin zur Lage der Nation ist fast ein Monat vergangen. Am Donnerstag erörtert er in Moskau vor Stars aus Sport und Kunst, wie der Staatsumbau aussehen soll.
Waleri Solowei: Alle Verfassungsänderungen scheinen bisher diffus. Seit Langem wird über Veränderungen gesprochen, die Putins neue Rolle nach dem Ende seiner Präsidentschaft 2024 betreffen. Zeitpunkt und Eile, mit der das jetzt geschah, überraschen jedoch. Klar aber ist, dass sie das Land auf veränderte Rahmenbedingungen vorbereiten sollten.
Welche Bedingungen?
Der Präsident könnte hypothetisch krank werden und unfähig, die Amtsgeschäfte zu führen. Oder andere politische Kräfte könnten in den Vordergrund drängen. Zurzeit ist es nicht die Opposition, die die politische Ordnung infrage stellt. Die Herrschenden selbst rütteln an den Grundmauern. Das kann an unterschiedlichen Schnittstellen passieren, beim Zusammenspiel zwischen Zentrum und Regionen etwa. Eingriffe in ein funktionierendes System sind jedoch riskant und destabilisierend.
Bislang galt der Kremlchef als Taktiker.
Putin muss immer alles minutiös selbst vorbereiten. Improvisiert wird nur, wenn es sein muss. Und er ist ein Meister der Verstellung: Niemand weiß, was er vorhat. Wenn ihm für einen Posten sechs Kandidaten vorgeschlagen werden, wählt er einen siebten.
Soll die Erweiterung präsidialer Vollmachten Putins Verbleib an der Macht sichern? Das wäre eine Rückkehr zur politischen Praxis der UdSSR.
Für Wladimir Putin und seine Vertrauten ist die UdSSR noch sehr lebendig. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war in ihren Augen das Ergebnis einer US-Verschwörung. Seither denken sie an Rache und träumen davon, die Sowjetunion zumindest als Zusammenschluss aus Weißrussland und Ukraine wiederauferstehen zu lassen.
Bislang vermeidet Moskau allzu offene Konflikte und geht nur überschaubare Risiken ein. Auch weil sich das Vermögen der Regierenden meist im Westen befindet.
Dennoch hoffen sie, vor allem im östlichen Europa wieder geopolitischen Einfluss zu gewinnen. Einige EU-Mitglieder begegnen Brüssel tatsächlich ziemlich distanziert, allen voran Ungarn, aber zum Teil auch Zypern, Griechenland, Tschechien und Bulgarien. Nach und nach ist in Russland auch die Überzeugung gewachsen, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron würden Sanktionen gegen das Land nicht mehr lange aufrechterhalten können. Italien habe sich ohnehin schon lange davon verabschiedet.
Italien trat ja oft als Lokomotive der Dissonanz auf. Salvini geht im Kreml aus und ein.
Moskau will jedoch weder einen neuen Block, noch ein ideologisches Bündnis schaffen. Auch wenn Moskau viele rechtspopulistische Parteien in Europa unterstützt, darunter auch die AfD. Sie sollen eines Tages wenn nötig eine revisionistische Koalition gegen die EU bilden. Dem Kreml wäre aber schon damit gedient, wenn einzelne Staaten wieder für sich sprächen. Kurzum: politische Souveränität auf nationalstaatlicher Ebene. Gegen einen gemeinsamen Markt wehrt sich Russland hingegen nicht.
59, ist ein russischer Politikwissenschaftler. Er lehrte an der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO, bis ihm 2019 „antistaatliche Propaganda“ vorgeworfen wurde.
Wie unterscheidet sich Putin von der Kamarilla aus Geheimdienstlern?
Putin hält sich inzwischen für ein Werkzeug Gottes, im Kreml herrscht eine mystisch-messianische Sicht auf die Welt, die in vormodernen Kategorien verhaftet ist. Putin ist unter den Kollegen noch der Klügste und geistig Beweglichste. Ganz dunkel wird es in der Umgebung von Nikolai Patruschew, dem ehemaligen Vorsitzenden des Sicherheitsrates und Chef des Geheimdienstes. Da zeigen sich professionelle Deformationen.
Was bedeutet das für die russische Außenpolitik?
Russland versteht sich sehr gut aufs Drohen und Angst einjagen, Gewalt wird als politisches Mittel geschätzt. Andere Ressourcen fehlen, die Wirtschaftsleistung ist bescheiden. Dennoch hat Moskau die besten Militärs in Europa. Sie sind auf Krieg geeicht, brauchen aber keine Panzer mehr: Russland setzt auf hybride Kriegsführung. Was würde etwa nach einem Angriff auf die Europäische Zentralbank passieren?
Warum sind die politischen Ziele der EU und Russlands so verschieden?
Hier treffen unterschiedliche Epochen aufeinander. Moskau bewegt sich im 19. Jahrhundert, wenn auch auf höchstem technischen Niveau. Wir wollten diese Unterschiede lange nicht zur Kenntnis nehmen.
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