Politik und Fußball in Georgien: Der andere Weg nach Europa
Georgien verbaut sich gerade den Weg in die EU. Umso wichtiger ist für viele die EM-Teilnahme. Der Jubel darüber hat das Land für einen Moment geeint.
Für einen Moment hatte Georgia das Gefühl, an einem anderen Ort zu sein, vereint durch einen seltenen Moment eines gemeinsamen Festes. Die Qualifikation des Landes für die EM war ein kollektiver Sieg, der die politische und kulturelle Polarisierung überwand, unter der das Land in den vergangenen Jahren gelitten hatte. Rufe und Hupen erfüllten die Hauptstadt Tbilissi, Menschenmengen mit Fahnen feierten bis tief in die Nacht.
Dies ist das größte Ereignis seit dem Gewinn des Europapokals der Pokalsieger im Jahr 1981 durch den georgischen Klub Dynamo Tbilissi. Angeführt von dem Flügelstürmer Chwitscha Kwarazchelia, der beim SSC Neapel kickt und von seinen italienischen Fans wegen seiner Fähigkeiten, die an Diego Maradona erinnern, den Spitznamen „Quaradona“ erhielt, besiegte Georgien im März zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 Griechenland und sicherte sich damit einen Platz im Turnier.
Die Feierlichkeiten waren jedoch nur von kurzer Dauer. Nur eine Woche später zog die regierende Partei „Georgischer Traum“ erneut einen umstrittenen Gesetzentwurf im Kreml-Stil aus der Schublade. Dieser verpflichtet alle Organisationen und Medien, die mehr als 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten, sich als „Agenten ausländischen Einflusses“ zu registrieren. Dieser Schritt, der als Versuch angesehen wurde, die vom Westen finanzierte Zivilgesellschaft und unabhängige Medien in ihrer Arbeit zu behindern, löste Massenproteste aus. Jetzt bedroht er Georgiens EU-Beitrittsperspektive. Am 3. Juni trat das Gesetz in Kraft, nachdem das Parlament das Veto der Präsidenten überstimmt hatte.
Der Sport und die Proteste
Die Proteste, die Anfang April begonnen hatten, wurden massiver. Die Polizei reagierte auf die wachsenden Unruhen mit Tränengas, Wasserwerfern und gewalttätigen Razzien, die an russische Methoden erinnern.
Eigentlich wollen die Georgier*innen nicht, dass sich Sport und Politik miteinander vermischen. Dennoch war es vielen von ihnen wichtig, dass auch die Fußballstars ihre Unterstützung für die Proteste zum Ausdruck bringen. Am 9. April teilte der georgische Nationalspieler Giorgi Kochoraschwili auf Instagram ein Foto seiner Nichte, das sie bei einer proeuropäischen Kundgebung in Tbilissi zeigt. Die Regierungspartei nutzte dies aus. Der Bürgermeister von Tbilissi und Generalsekretär des Georgischen Traums, der ehemalige Star des AC Mailand, Kacha Kaladse, deutete an, dass Kochoraschwilis Vater Mitglied einer Oppositionspartei sei.
Besonders aktiv wurden die Fußballer Mitte April, als der Gesetzentwurf über „ausländische Agenten“ in erster Lesung unter Protesten verabschiedet wurde. Der ehemalige Kapitän der georgischen Nationalmannschaft, Jaba Kankava, schrieb auf Instagram: „Scheiß auf Russland … Georgien liegt in Europa!“
Auch mehrere Vereine, darunter Dynamo, Lokomotiw, Zestafoni und Dschwari, unterstützen in den sozialen Netzwerken den europäischen Weg Georgiens. „Unsere europäische Zukunft ist unsere nationale Entscheidung. Wir erinnern uns an die Bedeutung unseres europäischen Titels mit dem Stolz Georgiens – diesen Titel, den unsere legendären Vorfahren geholt haben. Unsere Zukunft ist einzig und allein europäisch!“, postete Dynamo auf seiner offiziellen Facebook-Seite.
Botschaften aus dem Fußball
„Es fällt mir schwer mit anzusehen, wie sie sich meinen Landsleuten entgegenstellen, vor allem Frauen und Kindern“, schrieb Nationalmannschafts-Mittelfeldspieler Giorgi Tschakwetadse Anfang Mai auf Instagram. „Nichts ist mehr wert als unser Volk, kein Gesetz ist wichtiger als das. Heben Sie dieses Gesetz auf, und wir werden wieder zusammenleben, wie am 26. März! Kein Russland und volle Kraft voraus nach Europa!“ Obwohl einige Akteure, wie Khvicha Kvaratskhelia, zurückhaltendere Aussagen zum Thema Georgiens Weg nach Europa veröffentlichten, schürten ihre Botschaften dennoch die Begeisterung der Gegner*innen des Gesetzentwurfs.
Doch nicht alle Rückmeldungen waren positiv. Der ehemalige Spieler, Unterstützer des Georgischen Traums und Abgeordnete, Michail Kawelaschwili, warf Kwaratschelia gar vor, in sozialen Netzwerken zu Gewalt aufzurufen. „Kvara, ich appelliere an dich! Du gehörst niemandem, du gehörst Georgien und du darfst keinen Kräften erlauben, deine Position auszunutzen. Wenn ein Georgier wegen deiner Äußerungen mit einem anderen Georgier aneinander gerät, trägst du die Verantwortung“, so Kawelaschwili.
Druck auf die Spieler
Im Rahmen der jüngsten Kontroverse wurde auch der Stürmer Budu Zivzivadze kritisiert. Als die Meisterschaft näher rückte, veröffentlichten Medien Äußerungen aus Zivzivadzes Podcast, in denen Polizeigewalt gegen Demonstrant*innen verurteilt wurde. Schnell wurden die Aussagen gelöscht. Das führte zu Spekulationen darüber, ob dies auf Druck seitens des Fußballverbands und der Regierung geschehen sein könnte. Etliche Medien widmeten sich nun einem weiteren Fragment des Interviews, in dem Zivzivadze über Russland gesprochen und gesagt hatte: „Russland ist nicht nur unser Feind, sondern der Feind fast aller.“
„Einige Sätze von Budu Zivzivadze wurden auf seinen Wunsch hin entfernt, was auf dem Wunsch beruhte, zusätzliche Emotionen und Chaos vor dem anstehenden Turnier zu vermeiden“, hieß es bald darauf in den betreffenen Publikationen. Der Sport soll im Mittelpunkt stehen.
Georgien ist klarer Außenseiter in der EM-Gruppe mit Portugal, der Türkei und Tschechien. Dennoch hofft das Land, sich beim Turnier einen Namen zu machen. Ein einziger Überraschungserfolg könnte schon ausreichen, um sich als eines der besten dritten Teams für die K-o.-Runde zu qualifizieren. Da Erfahrungen auf höchstem Niveau sich auf einige wenige Spieler wie Kvaratskhelia, Giorgi Mamardashvili (Valencia) und Georges Mikautadze (Metz) beschränken, gilt die Aufgabe als gewaltig.
Und dennoch: Die Teilnahme an der Seite der besten Fußballnationen Europas ist ein Meilenstein. Die Nation wird auf die Landkarte gesetzt. Und vielleicht wird, wie es in der inoffiziellen Hymne der Nationalmannschaft heißt, „das Märchen glücklich enden“.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
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