Politik in den Sozialen Netzwerken: Engagiert euch – bei Tiktok!

Tiktok ist politisch, aber die demokratischen Parteien tun sich mit dem Netzwerk schwer. Nazis und Rechtsextreme hingegen nicht.

Jugendliche auf einer Demo von Fridays for Future machen ein Foto von anderen Demonstrierenden

Fridays for Future tut nichts dafür: Der Hashtag #Klimawandel hat auf Tiktok 31 Millionen Aufrufe Foto: Müller Stauffenberg/imago

Ganz ehrlich, ich finde, irgendwann reicht es auch mal.“ Mit diesem Satz beginnt ein über eine Million Mal geklicktes Kurzvideo von Charlotte Kiessling. Die junge Frau, die bei Tiktok über Feminismus und Antifaschismus spricht und in einigen Beiträgen sehr ausdauernd auf Hasskommentare antwortet, hat mal wieder einen lästigen Kommentar bekommen: Sie sei eine Männerhasserin.

Charlotte Kiessling, die in anderen Videos das Outfit für ihren Abiball zeigt, über ihren Besuch bei einer Gynäkologin spricht oder in einer beliebten Reihe erzählt, was sie mit 13 gerne über sich und ihren Körper gewusst hätte, gehört zu einer Generation, die mit Tiktok aufgewachsen ist – und die sich dort ganz selbstverständlich mit politischen Inhalten auseinandersetzt. Tiktok hat ein weltweites Publikum von rund 700 Millionen Nutzenden, in Europa sind es etwa 100 Millionen. Schätzungen zufolge sind etwa 70 Prozent davon zwischen 16 und 24 Jahre alt: die Generation Z, die Generation von Charlotte Kiessling.

Tiktok funktioniert so: Wer die App öffnet, landet auf der sogenannten „For You“-Seite. Hier werden individuell ausgesuchte Kurzvideos abgespielt. Kiesslings Video ist humorvoll und klug, aber eher untypisch, weil es vergleichsweise lang ist und ohne Effekte auskommt. Videos auf Tiktok sind sehr schnell geschnitten, sie spielen mit popkulturellen Bezügen und Trends, visuellen Effekten und charakteristischer Musik.

Wie bei Memes muss man auch bei Tiktok in der Regel bestimmte Kulturtechniken kennen oder erlernen, um die Kurzvideos in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen. Wer älter ist und die App zum ersten Mal öffnet, kommt sich deswegen zunächst womöglich verloren vor – bis der Algorithmus einen kennt und man die Videos versteht. Marcus Bösch und Chris Köver beschreiben das dann einsetzende endlose, exzessive Konsumieren in einer aktuellen Studie treffend als „ein dem Glücksspiel ähnliches Prinzip, das dank ausgeklügeltem Algorithmus zu bisweilen verwirrend langen TikTok-Sessions führt“.

Das politische Potenzial

Im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die im Rahmen einer langfristigen Beobachtung die Chancen für linke Ak­ti­vis­t*in­nen auf verschiedenen sozialen Netzwerken analysiert, haben Marcus Bösch und Chris Köver die politischen und emanzipatorischen Potenziale der Plattform Tiktok untersucht. Für ihre qualitative Studie „Schluss mit lustig?“ haben sie zahlreiche deutschsprachige Accounts von Politiker*innen, Ak­ti­vis­t*in­nen sowie politisch aktiven Nut­ze­r*in­nen ausgewertet. Sie geben einen Überblick über die politische Landschaft der App, zeigen exemplarisch, wo sie erfolgreich genutzt wird – und wo nicht. Ein Ergebnis: Tiktok ist sehr politisch, bisher fehlen aber erfolgreiche Konzepte, um die junge Zielgruppe anzusprechen.

Grundsätzlich ist das Verhältnis zwischen der Plattform und politischen Inhalten kompliziert. Obwohl Tiktok zunächst nicht daran interessiert war, ein Ort für politischen Austausch zu werden, war es nie unpolitisch. Besonders sichtbar wird das an Fällen von Zensur bestimmter Hashtags wie #acab oder der Unterdrückung von Inhalten queerer, behinderter oder dicker creators. Shadowbanning nennt sich das, wenn bestimmte Inhalte auf einer Plattform zwar nicht gelöscht, aber algorithmisch so ausgeschlossen und eingegrenzt werden, dass sie praktisch unsichtbar sind.

Aus der Studie lassen sich eine gute und eine schlechte Nachricht herauslesen. Die Gute: Ein großer Teil der jungen Nutzenden setzt sich mit progressiven politischen Inhalten auseinander und thematisiert neben privaten Fragen ganz selbstverständlich politische Inhalte. „Alles, was die Altersgruppe der Nut­ze­r*in­nen politisch bewegt, spiegelt sich auf TikTok wider“, schreiben Bösch und Köver. Sie beschäftigen sich mit Antifaschismus, Antirassismus, Feminismus, Umweltpolitik. Vor allem an den kritischen Auseinandersetzungen mit Feminismus und Sexismus werde sichtbar, „dass für viele junge Frauen, trans* und nicht-binäre Menschen queer-feministische Forderungen inzwischen klar zu ihrem Selbstverständnis gehören.

Viele Nut­ze­r*in­nen verschränken dabei ihre Kritik an sexistischer, homofeindlicher und rassistischer Diskriminierung zu einer intersektionalen Perspektive, die deutlich macht, wie verschiedene Machtsysteme zusammenwirken.“ Und das, obwohl einige Nut­ze­r*in­nen noch nicht einmal wahlberechtigt sind. Die schlechte Nachricht: Tiktok ist politisch, aber die Politik ist bisher nicht bei Tiktok angekommen. Vor allem Parteien haben das Potenzial der App nicht ausgeschöpft, so Bösch und Köver. „Es scheint deutschsprachigen Ak­teu­r*in­nen bislang an Wissen zu fehlen, wie man einen TikTok-Account erfolgreich führt und politische Inhalte effektiv transportiert.“

Po­li­ti­ke­r:in­nen auf TikTok

Auf der App ist im deutschsprachigen Raum vor allem Landespolitik vertreten, außerdem finden sich Bür­ger­meis­te­r*in­nen oder Europaabgeordnete, auch das Gesundheits­ministerium hat ein Profil. Eine kleine Warnung, falls Sie mal versucht sind, reinzuschauen: Die meisten dieser Profile sind sehr unangenehm. Sichtbar wird das bei Markus Blume, CSU-Generalsekretär und Tiktok-One-Hit-Wonder. Sein erstes Video erreichte knapp eine ­Viertelmillion Klicks, Blume gestikuliert mit offenem Hemd­kragen, was er durch Corona gelernt hat. Seitdem liegen die Klickzahlen für die meisten seiner Beiträge im unteren vierstelligen Bereich. Unter seinem neuesten Video – Blume läuft darin, musikalisch untermalt von Harry Styles „Watermelon Sugar“, aus einem Aufzug – kommentierte ein User treffend: Aua.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der deutsche Politiker mit der größten Reichweite ist Thomas Sattelberger (MdB) von der FDP, quirliger Schwabe, Ex-Maoist und ehemaliger Daimler-­Manager, dessen Beiträge von der Agentur eines jungen, linken Aktivisten bespielt werden. Durch ein Video über einen Zwangsaufenthalt im Aufzug mit einer „Horde“ maskenloser Mitglieder der AfD-Fraktion kam Sattelberger aus dem Nichts auf eine halbe Million Klicks. Das ist der vielleicht wichtigste Unterscheid zwischen Tiktok und ­anderen sozialen Netzwerken wie Instagram, die ja auch politisch sind: Relevanz bemisst sich bei Tiktok nicht nach Bekanntheit.

Während es, wie eine weitere Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung gezeigt hat, bei Instagram vor allem darum geht, mit vielen Fol­lo­wer*­in­nen zu interagieren und eine möglichst hohe Reichweite zu erlangen, hilft es bei Tiktok wenig, einen großen Namen zu haben oder viel zu posten, um sichtbar zu sein. Im Gegenteil: Häufig gehen Videos von völlig unbekannten Personen viral. Tiktok ist damit ein Gegenentwurf zu einer Politik, die sich darauf ausruht, dass alle Blicke sich automatisch auf sie richten – einfach weil sie Politik ist.

Rechtsextreme Netzwerke nutzen digitale Räume

Wie politische Diskurse unter diesen Bedingungen geführt werden können, zeigen Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future: Der offizielle deutschsprachige FFF-Account etwa wird zwar gar nicht erst bespielt, trotzdem hat der Hashtag #Klimawandel 31 Millionen Aufrufe und wird unabhängig von der Dachorganisation aktiv genutzt. So paradox es klingen mag: Obwohl bei Tiktok die einzelnen creators im Mittelpunkt stehen, geht es viel weniger um einzelne Personen oder ihren Status.

Das haben Parteien aus dem linken Spektrum allerdings noch nicht verstanden. Dabei wäre das nicht nur wichtig, weil sich auf Tiktok potenzielle Wäh­le­r*in­nen tummeln; es wäre auch aus einem anderen Grund dringend: Bösch und Köver weisen darauf hin, dass bisher vor allem rechte und rechtsextreme Netzwerke digitale Räume für sich nutzen – im deutschsprachigen Raum sind es bei Tiktok vor allem Privatpersonen, die ihre Videos mit Rechtsrock untermalen, rechtsextreme Codes in ihren Profilnamen verwenden oder unter Videos wie denen von Kiessling sexistische, antisemistische und rassistische Hasskommentare hinterlassen. „Aufgabe einer linken Öffentlichkeit sollte es deshalb sein, diese Aktivitäten zu beobachten und ihnen vor allem aktiv etwas entgegenzusetzen.“

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