Polit-Film „Die andere Seite von allem“: Am Ende werden die Türen geöffnet
Srbijanka Turajlić kämpfte einst für ein demokratisches Serbien. In „Die andere Seite von allem“ erzählt ihre Tochter Mila davon.
Selbst ist die Frau. Srbijanka Turajlić poliert das Schüsselloch zweier Türen, mitten in ihrem Wohnzimmer, die seit Jahrzehnten verschlossen sind. Davor stehen Sofas. Ein Puffer zur Welt dahinter, von der es nur Ahnungen gibt, Küchengerüche, und, latent, Stimmen und Ohren. Die Wohnung liegt in einem Gründerzeithaus in Belgrad, das, dem Kommunismus widersprechend, (über)große Einheiten vorsah.
Architekt war der Urgroßvater – die Wohnungspläne, versehen mit Stempeln der beiden Königreiche, denen das heutige Serbien einmal angehörte, existieren noch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde „nationalisiert“ und die Bourgeoisie enteignet, was für Turajlić’ Familie recht glimpflich ausfiel: Der Staat verteilte ein paar Zimmer an andere Familien.
Nachbarschaft als Arrangement von Ignoranz und Naserümpfen war die Folge, durchsetzt mit einer sozialismustypischen Klassendistinktions-Sensorik – bürgerliche Intelligenz hier, proletarisches Aufpassergehabe dort. Zum ersten Mal spricht Srbijanka Turajlić, Mutter der Regisseurin Mila Turajlić und Frau von herausragendem Charisma, da von Parallelwelten und einer gespaltenen Gesellschaft.
Ein Diktum, das sie im Verlauf von Mila Turajlić’ eindringlichem Polit-Familienfilm „Die andere Seite von allem“ wiederholen wird – dann jedoch in Bezug auf die Haltung gegenüber Slobodan Milošević’ Nationalchauvinismus. Ihre Peergroup, die einst gemeinsam zur Matheolympiade nach Moskau fuhr, hätte sich 1991, erzählt sie, als Milošević dem Traum von einem föderativen Staat ein Ende setzte und junge Serben auf Panzern in den Krieg schickte, bewusst dem schweigsamen Kartenspiel gewidmet. Um Streit zu vermeiden.
„Die andere Seite von allem“. Regie: Mila Turajlić. Serbien/Frankreich/Qatar 2017, 104 Min. Kinostart in Deutschland: 15. November 2018
Akademische Frontfrau
Auf welcher Seite sie selbst stand (und steht), belegen diverse TV-Mitschnitte aus den 1990er Jahren, die sie heute trocken kommentiert: Turajlić war akademische Frontfrau der Widerstandsbewegung „Otpor“, die am 5. 10. 2000 einen Sieg feierte und Miloševič stürzte. „Rette Serbien und töte dich selbst“, hatten die Massen skandiert.
Wieder fünfzehn Jahre später sieht sich die Mathematikprofessorin ihre Auftritte aus einer Distanz an, die ihr die neuere Geschichte des Landes auferlegt: Noch 1999 von der Universität wegen oppositioneller Tätigkeit entlassen, wurde sie unter Zoran Đinđić Bildungsministerin.
Đinđić wird 2003 ermordet; Turajlić steht heute als Serbenhasserin und Verräterin auf den Listen der Nationalisten – und denkt abgeklärt (aber auch kämpferisch) mit ihren Töchtern über die Rückgewinnung der abhanden gekommenen Demokratie nach. „Ich wünsche Ihnen eine glückliche Demokratie“ hatte man ihr 2000 gesagt. „Ich würde eher sagen: die glückliche Hoffnung auf die Annäherung an Demokratie.“
Dass selbst diese aus heutiger Perspektive gründlich gescheitert ist, zeigt das Politbarometer, mit einschlägigen Wahlergebnissen der SNS und einem Präsidenten, der unter Miloševič ultranationalistischer Informationsminister war. Ihre gedämpfte Euphorie ist nachvollziehbar. Und doch spricht sie von der Selbstverständlichkeit, mit der sie zur Rednerin auf den Protestbühnen gegen Slobo & Co. wurde.
Schwesterlichkeit und Antifaschismus
Auch, um später von ihren Töchtern nicht den Vorwurf zu ernten, sie hätte nur zugesehen und nicht gehandelt, während der Staat Jugoslawien, der zur unhinterfragten Heimat – auch ihrer – wurde, zerfällt und sich Neopatriarchat und Krieg ausbreiten.
Doch an Vergangenheitsvorwürfen hat die Regisseurin Mila Turajlić ohnehin kein Interesse. Vielmehr weiß sie um die Besonderheit der Tatsache, eine Politaktivistin zur Mutter zu haben und nützt die Gelegenheit gleich dreifach.
Sie setzt ihr (fern jeder Hagiographie) ein filmisches Denkmal und markiert im besten Sinne einen Raum generationsübergreifender feministischer Solidarität; sie durchschreitet mit ihr die zentralen Etappen der (post-)jugoslawischen Umbruchszeit (von der innerserbischen Bürgerkriegsnähe Ende der Neunziger über die Nato-Bombardierungen und die leeren Regale während der Sanktionen bis zur Restitution der nationalkonservativen Kräfte) und fügt dem Bild eine bedeutungsvolle Stimme der oral history hinzu; drittens aber – und das macht diesen Film auch im Gegensatz zum eher eindimensional suggestiven Vorgänger „Cinema Komunisto“ (2010) so besonders – verwebt Turajlić das neu gesichtete Archivmaterial und die Befragung wie Beobachtung der Mutter im Wohnzimmer mit gelegentlichen Blicken aus dem Fenster.
Unten auf der Straße ist es mal ruhig, mal chaotisch. Beides ist Normalität. Die Straßenreinigung ebenso wie der sich entladende (und verpuffende) Protest gegen die hohe Arbeitslosigkeit. Die „Otpor“-Sieger von damals sind die Verlierer von heute. „Foreign agents“ nennt man sie, wie Memorial und Co. in Russland.
Am Ende werden die Türen geöffnet. Slobos Reden hatte die verstorbene Nachbarin auf Kassette archiviert. Die Ex-Proletarierin als Nationalistin, die Ex-Bürgerliche als Verteidigerin von Schwesterlichkeit und Antifaschismus. Die andere Seite von allem eben.
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