Polio-Impfungen in Kriegsgebieten: Das Friedensvirus
Vorbild für Gaza? Vor einem Vierteljahrhundert zeigte die DR Kongo, wie Feuerpausen für Polio-Impfkampagnen Friedensprozesse befördern können.
K inderlähmung, also Poliomyelitis – Polio –, ist brutal. Das Poliovirus, über den Mund aufgenommen, verteilt sich über die Lymphknoten und befällt in schweren Fällen Rückenmark und Gehirn, was zu Entzündungen des Nervensystems führen kann. Bleibende Lähmungen sind die Folge. Wer in armen Ländern gesehen hat, wie verkrüppelte Poliogelähmte durch den Staub kriechen, auf den Händen anstelle der Füße, vergisst es nicht. Ihre Lebenserwartung ist niedrig, ihr Alltag erfordert eine unbeschreibliche körperliche und mentale Kraft.
Man kann Polio nicht heilen. Aber man kann es ausrotten, wenn man alle Kinder impft. Das klingt einfach, aber es gibt kaum etwas Schwierigeres. Man muss alle Kleinkinder finden und zweimal impfen, die Impfstoffe müssen gekühlt gelagert werden, eine Nachverfolgung ist wichtig. Daher ist Polio bis heute nicht ausgerottet, obwohl die Weltgesundheitsorganisation WHO dafür schon einmal das Jahr 2000 als Ziel aufrief.
Das Polio-Wildvirus zirkuliert zwar nur noch in Afghanistan und Pakistan, wo radikale Impfgegner – Islamisten – Impfkampagnen verhindern; aber weltweit treten sogenannte Vakzine-basierte Polio-Erkrankungen auf – das Virus lebt und entwickelt sich weiter, auch wenn Geimpfte daran nicht erkranken, und sobald es auf Ungeimpfte in schlechten hygienischen Umständen trifft, verbreitet sich die Seuche neu.
Sanitäre Versorgung in Gaza ist zerstört
Das ist aktuell im Gazastreifen der Fall, wo zwar noch 2022 eine Polio-Impfquote von 99 Prozent herrschte, aber Israel mittlerweile das Gesundheitswesen und die Trinkwasserversorgung weitgehend zerstört hat. Im Juli wurden dort bei drei Kindern Polio-typische Lähmungserscheinungen festgestellt und eine Vakzine-basierte Poliovirus-Variante im Trinkwasser nachgewiesen, weswegen die WHO und das UN-Kinderhilfswerk Unicef jetzt eine Impfkampagne starten.
Polio-Impfkampagnen setzen vieles voraus, was mitten im Kriegsgebiet meist fehlt: eine funktionierende Kühlkette mit Stromversorgung, sichere Transportwege mit Treibstoffreserven, geschultes Personal mit Kommunikationsmitteln, geschützte Impfzentren mit freiem Zugang. Für Gaza verlangten WHO und Unicef daher „humanitäre Pausen für sieben Tage, um zwei Impfrunden zu ermöglichen“. Sonst „wird die Kampagne nicht durchführbar sein.“
Die „humanitäre Pause“ zwecks Polio-Impfung ist keine neue Erfindung. In großem Stil wurde sie in der Demokratischen Republik Kongo geboren, zum Höhepunkt des Kongokrieges, der das Land 1998 in Warlord-Gebiete geteilt hatte. Der Staat war zerfallen, das ohnehin rudimentäre Gesundheitswesen brach völlig zusammen, Seuchen breiteten sich unkontrolliert aus. Als größtes Ausbreitungsland für Wildpolio war die DR Kongo damals „die oberste Priorität für die globale Polio-Ausrottung“, wie die WHO im Frühjahr 1999 warnte.
Das wirkte. UN-Generalsekretär Kofi Annan rang Kongos Präsident Laurent-Désiré Kabila und den Rebellen im Osten Kongos Zusagen ab: „Tage der Ruhe“ zum Impfen. UN-Untergeneralsekretär Sérgio Vieira de Mello wurde zum Sonderbeauftragten, Prominente wie der kongolesische Musiker Lokua Kanza warben für die Impfung.
Das Unmögliche erreichen
Die „Tage der Ruhe“ begannen am 13. August 1999 für eine Woche, Rebellenführer Emile Ilunga persönlich rief die erste Feuerpause im Radio aus. Es folgten zwei weitere, am Ende wurden knapp 90 Prozent aller kongolesischen Kinder im Alter unter fünf Jahren erreicht. Das war eine logistische Meisterleistung: Kongo hatte nicht nur keine funktionierende Verkehrs- und Energieinfrastruktur, damals gab es auch noch kein Internet, keine allgemeinen Telefonsysteme, nur Kommunikation über Funk und Satellit. Tief in der DR Kongo war man damals von der Welt abgeschnitten und möglicher Willkür ausgeliefert in einem Ausmaß, wie es heute nicht mehr vorstellbar ist.
Mit politischem Willen lässt sich auch unter widrigsten Umständen das Unmögliche erreichen. Wie überall gibt es auch in der DR Kongo engagiertes Gesundheitspersonal, das regelmäßig an der Politik verzweifelt. Sobald die Leute die Möglichkeit haben, Vernünftiges zu tun, tun sie es.
Nicht ganz zufällig entstand in jenem Sommer 1999, als in der DR Kongo plötzlich geimpft statt geschossen wurde, auch der Friedensprozess, der Kongos Krieg beenden sollte. In Sambias Hauptstadt Lusaka wurde am 10. Juli ein Waffenstillstand vereinbart, dem sich Ende August auch die Rebellen anschlossen. In der Zwischenzeit gründete die UNO ihre Kongo-Mission: zunächst 50 Militärbeobachter, später die größte UN-Friedensmission der Welt. Es dauerte Jahre, bis die Kämpfe tatsächlich endeten, und völlig befriedet ist die DR Kongo bis heute nicht – aber die Saat des Friedens wurde damals gelegt, vor genau 25 Jahren.
Feuerpausen, um Kinder zu impfen – geht da nicht auch mehr? Zu viel hineinlesen sollte man nicht: Die Polio-Impfungen waren keine spontane Basiskampagne, sondern es musste schon der UN-Generalsekretär tätig werden. Aber sein Appell, Impfungen zuzulassen, war wirksamer als ein allgemeiner Friedensappell. Nicht zuletzt sind auch Warlords und ihre Kinder nicht gegen Polio immun.
Polio-Gelähmte haben in der DR Kongo einen besonderen Stellenwert, der mit dem Krieg eher gewachsen zu sein scheint. Sie haben überlebt, sie genießen Respekt. Manche haben Sonderrechte, mit ihren selbst gebastelten Rollstühlen Grenzen und Sperren zu überqueren. In der kurzen Zeit der Hoffnung nach Kongos ersten freien Wahlen 2006, bevor das Land erneut in Konflikten versank, machte die von Polio-Versehrten gegründete Behindertenband „Staff Benda Bilili“ aus Kinshasa mit ihren Songs und schließlich mit einem preisgekrönten Film international Furore.
Der Kampf gegen Polio hilft, Grenzen zu überwinden: zwischen Kriegsparteien und eben auch in den Köpfen. Das ist eine kongolesische Lehre – vielleicht auch für Gaza und Israel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?