Polen fordert Reparationen: Rechnung am Jahrestag
Vor 83 Jahren fiel Deutschland in Polen ein. Nun kündigt PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński offizielle Reparationsforderungen Polens an Deutschland an.
Im Warschauer Königsschloss, das die Deutschen 1944 – so wie die ganze Innenstadt Warschaus – dem Erdboden gleichgemacht und das die Polen nach dem Krieg in neuer Pracht wiederaufgebaut hatten, vermischt er dann aber alles: jüdische Tote in Vernichtungslagern, ermordete polnische Widerstandskämpfer, Verletzte und Zwangsarbeiter, nicht geborene Kinder, materielle Verluste, zerstörte Bauwerke, entgangene Steuern, verfallene Versicherungen. Mularczyks Vortrag ist eine einzige Zahlenauflistung. Dann fasst er zusammen: „Dies ergibt eine Summe von 1 Billion 200 Milliarden Euro an Kriegsverlusten.“
Der Abgeordnete der nationalpopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die seit Ende 2015 die Regierung in Polen stellt, hatte schon 2019 verkündet, dass der von ihm geleitete PiS-Parlamentsausschuss zu Reparationsfragen seine Arbeit beendet habe. Der Bericht verschwand dann aber in einer Schublade des Parteichefs Jarosław Kaczyński, und auch der Parlamentsausschuss machte nach den Wahlen 2019 nicht weiter.
Zwar hielten Kaczyński, Mularczyk, Premier Mateusz Morawiecki und andere PiS-Politiker das Thema „Kriegsreparationen“ die ganze Zeit am Köcheln, beschuldigten auch immer mal wieder die Deutschen in Interviews, sich entweder gar nicht mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigt zu haben oder aber die Schuld für den Holocaust den Polen in die Schuhe schieben zu wollen, doch der fertige Bericht mit den exorbitanten, aber auch dubiosen Zahlen blieb unter Verschluss. Jetzt aber, so Kaczyński, „ist es an der Zeit, den Deutschen die Rechnung in Höhe von 1,2 Billionen zu präsentieren“.
Die PiS braucht stets Feinde, und die antideutsche Karte soll die Wiederwahl im Herbst 2023 retten. Schon seit Jahren behaupten Kaczyński, Morawiecki und andere PiS-Politiker, dass Polen niemals Reparationen von Deutschland bekommen habe, anders als andere Staaten.
Falsche Behauptungen über Reparationen
Am 1. September, dem Gedenktag an den Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen 1939, führt Kaczyński dies auf einen Minderwertigkeitskomplex der Polen zurück, der dazu führte, dass sie sich diese Nichtachtung hätten gefallen lassen. Das ist aber falsch. Polen bekam acht Jahre lang – von 1945 bis 1953 – Baumaterialien, Rohstoffe, ganze Züge, Lokomotiven, Schienen, Lkws, Busse, demontierte Fabriken, Zahnarztstühle, Nähmaschinen, Möbel, Kleidung, Schuhe, Produkte aus der laufenden Fabrikproduktion. Auf der Potsdamer Konferenz hatten die Alliierten beschlossen, dass Polen die Reparationen aus der sowjetischen Besatzungszone und daher über die Sowjetunion bekommen sollten.
Der Gesamtwert der von Nachkriegsdeutschland aufzubringenden Reparationen sollte bei 20 Milliarden US-Dollar liegen. Dies war schon auf der Konferenz von Jalta festgelegt worden. Die Sowjetunion, die die schwersten Kriegsverluste davongetragen hatte, sollte die Hälfte erhalten, also 10 Milliarden US-Dollar.
In Potsdam konnten sich die Alliierten auf keine Summe einigen, sondern überließen es den vier Besatzungsmächten, so viel aus ihren Besatzungszonen zu entnehmen, wie sie es für richtig hielten. Wie viel Polen in den acht Jahren erhalten hat, ist heute kaum noch zu schätzen. 1953 verzichteten erst die westlichen Alliierten, dann auch die Sowjetunion und die damalige Volksrepublik Polen auf weitere Reparationen. Erst bei einem Friedensvertrag sollte die Frage nach Reparationen neu gestellt werden.
Doch beim Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 zwischen den beiden Deutschlands und den vier Alliierten kam das Wort „Reparationen“ gar nicht vor. Rechtlich gesehen ist damit die Reparationsfrage abgeschlossen. Zu den Reparationen werden heute auch die ostdeutschen Gebiete gezählt, die direkt nach dem Krieg „unter polnische Verwaltung“ gestellt wurden und dann endgültig ins polnische Staatsgebiet übergingen. Auch hier ist es schwer, den genauen Wert dieser Gebietsabtretung zu schätzen.
Von deutscher Seite wurde in den letzten Jahrzehnten mehrfach angeboten, eine deutsch-polnische Stiftung zu gründen, die – finanziert von der Bundesrepublik – auf der ganzen Welt Kunstwerke erwerben könnte, um Polen zumindest einen Teil der kulturellen Verluste aus der Okkupationszeit ersetzen zu können. Doch auf diesen Vorschlag ging bislang keine polnische Regierung ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach