Poker um Pipelines aus Nordafrika: Madrid biedert sich Rabat an
Spaniens Regierung vollzieht eine Kehrtwende im Westsahara-Konflikt und unterstützt jetzt Marokkos Linie. Algerien ist wütend.
Das von Rabat am Freitag der Presse zugänglich gemachte Dokument bedeutet eine Abkehr von der bisherigen spanischen Doktrin, wonach der Westsahara-Konflikt im Rahmen der UNO gelöst werden muss. Die UNO strebt seit 1991, als ein Waffenstillstand zwischen der Unabhängigkeitsbewegung Polisario und Marokko in Kraft trat, eine Volksabstimmung über den Landstrich im Nordwesten Afrikas gegenüber den Kanarischen Inseln an. Diese scheiterte bisher immer an der Frage, wer abstimmungsberechtigt ist.
Seit November 2020, als die Polisario den Waffenstillstand aufkündigte, kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen entlang des über 2.000 Kilometer langen, von Marokko errichteten Sandwalls.
Er trennt die marokkanisch kontrollierten Gebiete, die 70 Prozent der Fläche der Westsahara ausmachen, von den „befreiten Zonen“ der Polisario im Landesinneren an den Grenzen zu Algerien und Mauretanien.
„Neue Etappe der Beziehungen mit Marokko“
Nach der marokkanischen Veröffentlichung des Briefes aus Madrid bestätigte Spaniens Regierung eine „neue Etappe in den Beziehungen mit Marokko auf der Grundlage gegenseitigen Respekts“. Sánchez wird in den nächsten Tagen nach Rabat reisen.
Spanien schließt sich damit der Linie an, die 2020 der damalige US-Präsident Donald Trump vorgegeben hatte: Er erkannte Marokkos Hoheit über die Westsahara an. Rabat nahm dafür vollständige Beziehungen zu Israel auf.
Der aktuelle US-Präsident Joe Biden hält, trotz scharfer Proteste der UNO, an dieser Linie fest. Für die UNO ist die Westsahara ein „nicht entkolonialisiertes Gebiet“ und Madrid völkerrechtlich weiter der koloniale Verwalter.
„Die Position der spanischen Regierung steht im völligen Widerspruch zur internationalen Legitimität“, heißt es in einem Kommuniqué der Polisario. Die Westsahara-Befreiungsbewegung unterhält in den sahrauischen Flüchtlingscamps in Algerien eine Exilregierung samt Armee.
Algerien zieht Botschafter zurück
Über 170.000 Flüchtlinge leben nach Polisario-Angaben seit den 1970er Jahren in diesen Lagern, während in der Westsahara mehrheitlich nach 1975 angesiedelte Marokkaner leben.
Algerien reagierte als Schutzmacht der Polisario umgehend und scharf und zog seinen Botschafter in Madrid zu Beratungen ab. Diplomatische Quellen in Algier sprechen gegenüber der spanischen Presse vom „zweiten großen Verrat Spaniens an den Sahrauis“. Der erste sei gewesen, als Madrid die Kolonie 1975 an Marokko und Mauretanien übergab, der zweite jetzt mit dem Brief von Sánchez.
Die spanische Regierung behauptet, die Regierung in Algier sei im Vorfeld vom Inhalt des Schreibens informiert gewesen. Die bestreitet dies.
Madrid pokert hoch. Algerien ist der Hauptlieferant von Erdgas nach Spanien. Eine Lieferbeschränkung könnte im gegenwärtigen Konflikt mit Russland als dem anderen großen Gaslieferanten Europas schwere Folgen haben.
Spanien gefährdet seine Erdgasversorgung aus Algerien
Dank des Westsaharakonflikts funktioniert seit Herbst nur noch die Pipeline, welche die algerische Wüste direkt über das Mittelmeer mit Spanien verbindet. Eine zweite, die durch Marokko verläuft, wurde von Algerien nach Angriffen marokkanischer Drohnen in der sahrauischen Wüste, bei denen algerische Lkw-Fahrer ums Leben gekommen sein sollen, stillgelegt.
Ungerührt von den algerischen Protesten erklärt der spanische Außenminister José Manuel Albares: „Heute beginnen wir eine neue Phase unserer Beziehungen mit Marokko und beenden eine Krise mit einem strategischen Partner.“
Gemeint ist die Krise vom vergangenen Jahr, als Madrid dem Polisario-Führer Brahim Ghali erlaubte, aus Algerien nach Spanien einzureisen, um sich gegen Covid-19 behandeln zu lassen.
Seither erlaubt Marokko immer wieder Massenanstürme afrikanischer Migranten auf die Grenzen, die Spaniens nordafrikanische Exklaven Ceuta und Melilla von Marokko trennen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin