Poesiefestival Berlin: Die Freude der Abschweifung
Die Dichterin Anne Carson hielt die „Berliner Rede zur Poesie“ vom Arbeitszimmer aus. Wegen Corona findet das Poesiefestival Berlin online statt.
Es begann früh. Fast zeitgleich mit dem Lockdown ploppten gleich mehrere Streams auf, ob auf Facebook oder Instagram, in denen sich häusliche Dichterinnen und Dichter daranmachten, ihre Werke via Zoom ins Digitale zu versenden. Es gab ganze Zoom-Festivals, die passend „Viral“ oder ähnlich hießen; den zur Quarantäne verdammten Sportlern und Musikern wollte man auf keinen Fall nachstehen, schien es. Verblüffend war daran nicht der Grad der Qualität, eher im Gegenteil, sondern der freie Wille zur Selbstausbeutung, der dieser randständigen Kunstform, der Poesie, allerdings schon länger zu eigen ist.
Ja, will denn niemand mehr vom eigenen Schreiben leben? Manchmal springen dafür bestimmte Institutionen ein, meist jedoch nicht. Eine dieser Institutionen ist das Poesiefestival, das jedes Jahr am meteorologischen Sommerbeginn in Berlin stattfindet, draußen in der sonnig-schattigen Akademie der Künste in Berlin-Tiergarten. Hier lesen die Dichterinnen und Dichter meist gegen gutes Geld; nicht unbedingt die erste, aber mindestens die zweite Riege der internationalen Poesie wird gern mal eingeflogen und sorgt für Besuchendenzahlen, die das veranstaltende „Haus der Poesie“ zumindest milde stimmen.
Dieses Jahr ist nun alles anders, was ja schon eine Binse ist; das Poesiefestival ist entgegen den Erwartungen allerdings nicht abgesagt worden, sondern versucht den Sprung ins Digitale. Ein leicht abgespecktes Programm ist nun frei und gegen Spende über die Webseite des Festivals (poesiefestival.org) abrufbar.
Nun kommt das Festival meist mit festen Programmpunkten daher. Traditionell eröffnet es mit dem „Weltklang“, einem Abend voller lyrischer Mehrsprachlichkeit; seit einigen Jahren kommt auch die sogenannte Berliner Rede zur Poesie dazu. Für 2020 ist mit Kanada erstmals ein Gastland bestimmt worden; so bestritten den „Weltklang“ diesmal auch hauptsächlich kanadische AutorInnen.
Funkelnde Kurzprosa
Für die Berliner Rede konnte die kanadische Dichterin Anne Carson gewonnen werden. Nun ist Anne Carson vielleicht nicht Anne Sexton (die ist allerdings auch keine Kanadierin) oder Alice Munro (die allerdings keine Gedichte schreibt), also erst einmal hauptsächlich Insidern bekannt, aber wie sich bald zeigte, eine sehr gute Wahl.
„Thirteen Ways of Looking at a Short Talk“, zu deutsch „Dreizehn Blickwinkel auf einige Worte“ nannte sie ihre Rede, die erfrischenderweise weniger eine Einführung in die Poesie, als ein Stück funkelnder, gleichwohl poetischer Kurzprosa war, die so vielleicht auch von Lydia Davis hätte kommen können.
Natürlich ging es Carson, einer inzwischen 69-jährigen Dame mit grauem, zusammengebundenem Haar, dabei sehr wohl um Poesie, nicht zuletzt um die eigene; aber die in 13 Teile gefasste Rede umkreiste eher das Thema, schweifte dabei gerne ab, erzählte erfundene Geschichten über Kollegen wie den 2017 gestorbenen John Ashbery oder alte Größen wie Flaubert, Joseph Conrad, Hegel, Aristoteles oder Ovid. Und was in dieser Aufzählung nach Huberei qua Namedropping klingt, war tatsächlich schillernde Beschäftigung mit literarischen oder philosophischen Vorbildern und Situationen, die typisch sind für den Literaturbetrieb und diesmal eben ausbleiben müssen.
Carson trägt Strohhot, viel mehr Action ist nicht
Dazu sieht man Anne Carson in ihrem Arbeitszimmer, während ab und an im Hintergrund das Gespenst eines Mannes durchs Bild läuft. Zu Flaubert trägt Carson einen Strohhut; auch später wird mal eine Kopfbedeckung ausprobiert, viel mehr Action ist nicht. Aber ihr Vortragston ist angenehm, die schriftliche Simultanübersetzung am linken Bildrand funktioniert ausgezeichnet, Anja Utler hat das manchmal sperrige Englisch (so was gibt es) in ein überraschend geschmeidiges Deutsch übertragen.
Lustigerweise hat sie „spring“ mit „Fühling“ übersetzt; was vermutlich nur ein Tippfehler ist, bekommt in diesem Kontext unfreiwillig einen Mehrwert, da sich Carson just im ersten Teil ihrer Rede mit der Poesie des Fehlers beschäftigt (kurze Zusammenfassung: schon die alten Griechen waren für Fehler gut).
Natürlich birgt so ein relativ schmuckloser Bildvortrag die Gefahr der Ablenkung. Man checkt Nachrichten oder steht auf, um etwas nachzuschlagen; Anne Carson vermochte es dennoch mit ihrer stimmlichen Präsenz, einen immer wieder in den Text zurückzuholen. Eine Qualität, die nicht selbstverständlich ist.
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