Plötzlich Leben in der Peripherie: Ein neu gedachter Ort
In zwei leer stehenden Häusern in Neuenfelde erforschen Kulturaktivisten das Potenzial des ehemaligen Dorfes in Hamburgs südwestlichstem Zipfel.
HAMBURG taz | Es sind mindestens acht verschiedene Lagen, die Tapetendesigner Philip Gaedke in den Häusern in der Hasselfelder Straße 146 und 147 in Neuenfelde abgetragen hat. Nun wollen er und Mathias Lintl herausfinden, von wann die Motive sind. Diese Recherche ist ein Bestandteil des Projektes, das Lintl zusammen mit dem Stadtkultur Hafen e. V. und der „überNormalNull GmbH“ seit Mitte März in den beiden Häusern durchführt.
„Refugium für urban gestresste Menschen“ nennt es der 48-jährige Lintl, der seit vielen Jahren im Feld der „Kunst und Kultur in der Stadtentwicklung“ in Hamburg aktiv ist und so zum Beispiel die Soulkitchenhalle in Wilhelmsburg als freien Kunst- und Kulturort etabliert hatte. Wie auch die Soulkitchenhalle viele Jahre ungenutzt leer stand (und nun wieder steht), waren die beiden Häuser in Neuenfelde seit mehr als elf Jahren unbewohnt.
„Die zwei Häuser sollten, so wie mindestens 20 andere, der geplanten Verlängerung der Start- und Landebahn des benachbarten Airbus-Werkes weichen“, sagt Lintl und erzählt, wie er 2006, zu Beginn der Airbus-Bauarbeiten, aus der benachbarten Straße, dem „Rosengarten“, einen Rosenstock gerettet hatte. „Da hab ich bereits das Konzept für die Häuser geschrieben.“
Lintls beharrliches Nachhaken führte schließlich ans Ziel, als die Häuser zu Beginn des Jahres vom ehemaligen Besitzer Landesbetrieb für Immobilienmanagement an die Saga-GWG übertragen wurden. Das städtische Wohnungsunternehmen hat die Häuser der Initiative „temporär bis Ende August mietfrei überlassen, um der Initiative die Möglichkeit zu geben, sich in Neuenfelde zu orientieren“. Sowohl die Initiative als auch Saga-GWG sähen dies als ergebnisoffenen Prozess.
Zwischen Este und Alter Süderelbe gelegen, befindet sich Neuenfelde auf dem Hamburger Teil des Alten Landes.
2009 hat das Dorf mit seinen rund 4.500 Einwohnern sein 950-jähriges Jubiläum gefeiert.
Für den Bau des Airbus A380 wurde 2006 die Start- und Landebahn verlängert. Dazu kaufte die Stadt mindestens 60 Häuser in der Hasselwerder Straße und im „Rosengarten“ an.
Bis zu Beginn dieses Jahres wurden diese leer stehenden Häuser wie in einer Geisterstadt abends beleuchtet, beheizt und bewacht.
Aktuelle Veranstaltungen im Neuenfelder Forschungsprojekt im Netz unter www.refugium-neuenfelde.de
„Wir freuen uns über die vielen Begegnungen“, sagt Lintl. Zusammen mit der Landschaftsplanerin Jenny Ohlenschlager lädt er nun in den großen, verwilderten Garten ein. „Wir wollen mit den Menschen ins Gespräch kommen“, sagt Ohlenschläger und hält eine in Bierteig getunkte Holunderblüte ins heiße Öl. Der „Pflanzenmusiker“ Harald Finke führt währenddessen den Anwesenden vor, wie die „Brennnessel in Piano“ klingt.
Dass unter den Besuchern der besonderen Veranstaltung „Pflanzenmusik“ im Rahmen des „Blurred Edges“-Festival“ auch eine Neuenfelderin war, die sich zum Ort und zu den Häusern äußert, entspricht ganz der Vorstellung von Lintl und seinem Team. „Wir wollen nicht nur von den Leuten Informationen, sondern wir wollen ihnen gleichzeitig was geben.“ Im gemeinsamen Austausch wollen Lintl und seine Mitstreiter sowohl die Geschichte der beiden Häuser als auch deren Potenzial für eine zukünftige Nutzung erforschen.
Da ist beispielsweise der Bäckerei-Backofen, in dem einst Brote gebacken wurden, die „Jan noch in den 50er-Jahren mit seinem Pferdefuhrwerk im Dorf ausgetragen hat“, wie Lintl in Erfahrung bringen konnte. Der ausgediente Backofen soll nun wieder in Betrieb genommen werden.
Und da sind die vielen zum Teil verwinkelten – mannigfach tapezierten – Räume in den zwei Häusern mit insgesamt 500 Quadratmetern. Während Lintl in der Abendsonne vor dem Haus sitzt, denkt er laut über die Möglichkeiten des „Refugiums für urban gestresste Menschen“ nach: So könnten die beiden schmucken, einstöckigen Häuser als Hostel für Fahrradfahrer und im Winter als Inspirationsort für Bands benutzt werden. Oder als Pension für ältere Künstler, oder als Dorflounge für die Neuenfelder und Besucher.
Im Dorf ist man von Lintls Projekt sehr angetan. Für die Neuenfelderin, die in Lintls Garten zu Besuch war, ist das Projekt ein „gutes Zeichen“. Dass sie nicht namentlich genannt werden möchte, hat damit zu tun, dass ihr die jüngste Geschichte von Neuenfelde noch sehr nachgeht. „Das war schrecklich, was da abging“, sagt sie und beklagt, dass im Zuge der Erweiterung der Airbus-Landebahn ein „ganzes Dorf zerspalten“ wurde.
Bis Ende August will Lintl nicht nur sein Konzept für die Weiternutzung der Häuser für die Saga-GWG geschrieben haben. Bis dahin sind auch alle Interessierte, ob „urban gestresst“ oder nicht, zu einem Besuch eingeladen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!