Pläne für nächste Corona-Welle: Giganten der Rammdösigkeit
Wenn die nächste Corona-Welle kommt, ziehe ich auf eine Insel. Keine im Mittelmeer, sondern am Tegeler See.
W enn die nächste Welle kommt, ziehe ich auf eine Insel. Keine im Mittelmeer, dorthin darf ich ja im Falle eines zweiten Lockdown gar nicht mehr fliegen. Auch die Ostsee ist zu weit. Ich nehme stattdessen die U6 gen Norden, steige an der Endstation aus, fahre mit dem Bus durch den schattigen Tegeler Forst, vorbei an einem einsamen „Nahkauf“ und Häusern in Schuhkartonform, bis ich den Tegeler See erreiche. Dann springe ich in mein Boot und setze über auf mein stilles Eiland.
So stelle ich mir das zumindest vor, während J. und ich in der Mittagssonne übers Wasser fahren. Wir haben uns ein Boot gemietet und schauen uns die sieben Inseln an, die den Tegeler See von der Havel trennen: kleine Giganten der kollektiven Rammdösigkeit, viele bewohnt von Dauercampern und Wochenendurlaubern. Vom Wasser aus blinzeln wir durch die Bäume und stellen uns die Welt hinter den Gardinen der Camperwagen vor: Heinz-Ketchup, Capri-Sonnen und Radio Paradiso. Ich wette, wir liegen so richtig falsch, und ich sehne mich eigentlich nur nach Sommerferien bei Oma.
An den Schiffsbugen auf dem See wehen selbstgefällig die Deutschlandfahnen. Irgendwie provozieren sie mich, dabei glaube ich noch nicht mal, dass das ihr Zweck ist: Ich schätze, die Bootbesitzer bringen sie nur aus Gewohnheit an. Eine Welt, in der es Orte namens „Marina Schulz“ gibt, hat ihr eigenes Zeichensystem, ihre eigenen Regeln eh.
Die Inseln wollen von der Welt nichts hören, von der Weltpolitik erst recht nicht, obwohl es zumindest der Lindwerder, die kleinste der Inseln, besser wissen müsste: Nach dem Zweiten Weltkrieg kippte man hier so viel Trümmerschutt aus, dass die Insel um 3.000 Quadratmeter wuchs, so steht es auf Wikipedia. Was da noch steht: Weil die zweitgrößte Insel mit dem überaus hübschen Namen Valentinswerder nicht unters Bundeskleingartengesetz fällt, dürfen hier Menschen dauerhaft leben. Gerade sind es wohl 26.
Breitbeinig in der U9
Wenn nun also Corona noch einmal so richtig ausbricht, denke ich mir, werde ich einfach Nummer 27. Auf meiner Insel müsste ich nie Menschen böse anstarren, weil sie mir im Späti in den Nacken atmen. Oder sich in der U9 breitbeinig neben mich fallen lassen, als verringere sich der gebotene Sicherheitsabstand auf magische Weise, sobald man mit der U-Bahn reist.
Nein, auf der Insel würden wir Abstand halten, ohne uns einzuschränken. Im Kosmos der Sommerhaus- und Laubenbewohner ist Freiheit ein paradoxes Gut: Entgrenzung entsteht durch strenges Vermessen. Das eigene Reich im Grünen hat exakt beschnittene, DIN-genormte Grenzen, über die man in der Innenstadt gern lacht, aber nun, in der Krise, schlägt das Empire der Stadtrandbewohner zurück: Nun lacht man dort über die coolen Kids, die ihre Eltern auf dem Land und in der Vorstadt anbetteln, die alten Jugendzimmer wieder beziehen zu dürfen, weil sie sich von ihren Bumsclubs in Friedrichshain auch nichts kaufen können.
Ich habe keine Ahnung, wie nett ich meine 26 Nachbarn auf Valentinswerder fände – aber selbst eine Insel der Feinde wäre vielleicht besser als eine Großstadt voller Paranoiker. Während meine Freunde in ihren Stadtwohnungen schreiend im Kreis liefen, würde ich auf der Insel Kreuzworträtsel lösen, Eis und Cordon bleu im Bofrost-Katalog bestellen und schließlich, nach Ende der Krise, zurück in die zermürbte, verderbte Großstadt schweben, noch weich umflort vom zenbuddhistischen Glow der Radio-Paradiso-Hörer.
Mein Weltflucht-Plan nimmt Formen an, aber die Zeit ist um: J. und ich müssen das geliehene Boot zurückbringen. Beim Einparken rammen wir einen Pfeiler. Ich glaube, die Bootsbesitzerin findet uns sehr amüsant.
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