Pläne aus 2012 gegen Pandemie: Plötzlich real
Zu wenig Klinikbetten, ein Engpass an Ausrüstung – 2012 haben Behörden das Szenario einer Viruspandemie durchgespielt. Es passierte – wenig.
So steht es in der Risikoanalyse für eine Viruspandemie, die Behörden unter Federführung des Robert Koch-Instituts (RKI) bereits im Jahr 2012 im Auftrag der Bundesregierung erstellt haben. Bis vor Kurzem hätte wohl jeder Leser des Berichts ein solches Szenario als eher unrealistisch abgetan.
Doch heute, in Zeiten der Covid-19 Pandemie, erscheint die Anfang 2013 erschienene Bundestagsdrucksache 17/12051 fast wie ein Blick in die Kristallkugel. Wobei die seinerzeit durchgespielte fiktive SARS-Pandemie in ihren Auswirkungen deutlich extremer ausfällt als die tatsächlich grassierende Corona-Pandemie.
Gleichwohl machte die Risikoanalyse zwei Schwachstellen im Gesundheitssystem aus, die einem in Zeiten von Corona sofort bekannt vorkommen. Einmal der befürchtete Mangel an Klinikbetten: „Der aktuellen Kapazität von 500.000 Krankenhausbetten stehen im betrachteten Zeitraum mehr als vier Millionen Erkrankte gegenüber, die im Krankenhaus behandelt werden müssten“, heißt es im Bericht. Außerdem wird vor einem Engpass an Medikamenten, Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung gewarnt.
Ein „Maximalszenario“, keine bindende Wirkung
Gefolgt ist aus der Feststellung von 2012, dass Betten und Ausrüstung fehlen, offenkundig wenig. Laut Deutscher Krankenhausgesellschaft haben die knapp 2.000 Kliniken hierzulande heute rund 500.000 Betten –ebenso viele wie 2012 also. Auch an Schutzausrüstung wie Atemmasken fehlt es. Stellt sich die Frage: Wurden etwa gar keine Konsequenzen aus dem Bericht gezogen? Zumindest vom Bund scheint damals keine große Reaktion ausgegangen zu sein.
Ein erster Grund dafür, liegt in der nicht-verbindlichen Natur des Berichts. Das RKI spricht von einem „Maximalszenario (…) um das theoretisch denkbare Schadensausmaß einer Mensch-zu-Mensch übertragbaren Erkrankung mit einem hochvirulenten Erreger zu illustrieren.“ Eine eins-zu-eins-Umsetzung des Berichts war also schlicht nicht vorgesehen.
Der andere – und vermutlich gewichtigere Grund dafür, dass der Bericht keine praktischen Folgen nach sich zog, findet sich im föderalen System des deutschen Staates. Es war zwar der Bund, der die Risikoanalyse erstellt hat – über mögliche Reaktionen auf den Bericht bestimmen aber die Länder, etwa was den Katastrophenschutz betrifft.
Für die Vorbereitung auf mögliche Katastrophen sind in Friedenszeiten allein die Bundesländer zuständig, der Bund kann dagegen laut Grundgesetz hier nur im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ eingreifen. Bemühungen, dem Bund mehr Kompetenzen beim Bevölkerungsschutz zu übertragen, scheiterten bislang am Veto der Länder.
„Definitiv zu wenig passiert“
Aber ist damals wirklich nichts geschehen? Im Idealfall wäre es wohl so gelaufen: Nach Vorliegen des Berichts hätten die Länder ihre eigenen Pandemiepläne so angepasst, dass Schwachstellen beseitigt werden. Eine Nachfrage der taz bei mehreren Ländern, ob damals Konsequenzen aus dem Bericht gezogen wurden, bringt wenig Aufschluss.
Doch der Blick in die ländereigenen Pandemiepläne lässt tief blicken. Niedersachsens Influenza-Pandemieplan ist beispielsweise auf dem Stand von Oktober 2006. Auch in anderen Ländern fehlen – ebenso wie im Nationalen Pandemieplan (immerhin zuletzt 2017 aktualisiert) – klare Vorgaben nach dem Motto: So und so viele Schutzmasken sind in jeder Arztpraxis zu bevorraten.
Konstantin von Notz, Innenpolitiker der der Grünen im Bundestag, fordert daher Konsequenzen für den Bevölkerungsschutz. Seit der Analyse sei „definitiv zu wenig“ passiert, sagt er der taz. „Sicherlich hat das föderale System seine Berechtigung, beim Katastrophenschutz stoßen wir aber immer wieder an Grenzen“, beklagt er. Er fordert eine klarere Zuständigkeiten, um „Dinge einheitlich umzusetzen“.
Den schwarzen Peter allein den Ländern zuzuschieben, greift wohl dennoch zu kurz. So gibt es einen Passus im Infektionsschutzgesetz des Bundes, wonach dieser dann doch durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, die Vorsorge der Gesundheitsversorgung im Fall einer Pandemie zu regeln.
RKI-Chef unterschätzte Corona-Gefahr
So oder so wurde die Sache unterschätzt. „Pandemie- und Notfallpläne dürfen mittelfristig nicht in der Schublade verstauben“, beklagt Linken-Gesundheitspolitiker Achim Kessler. Sie müssten anhand wissenschaftlicher Kriterien erprobt und angepasst werden, worunter auch die beständige Aktualisierung der Lagerbestände von Schutzausrüstung falle. „All dies haben die Bundesregierung und die Länder versäumt“, beklagt er.
Tatsächlich hätte sich wohl kaum ein Politiker, ob in Bund oder Land, eine Pandemie wie Corona wirklich vorstellen können. Anfang 2013 waren die Eurokrise oder Pferdefleisch in Tiefkühllasagne bestimmende Themen. Für Pandemievorsorge war da wenig Platz.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat zuletzt selbst Fehler eingeräumt: „Wir haben auch gute Pandemie-Pläne. Aber wir haben sie nicht genug geübt.“ Und sogar RKI-Chef Lothar Wieler lag falsch, als er noch im Januar prognostizierte, dass sich das Virus „nicht sehr“ stark auf der Welt ausbreiten würde. Ein großer Irrtum.
Immerhin: Die Süddeutsche Zeitung berichtete kürzlich von einem „erstaunlich selbstkritischen Blick“ im Krisenstab der Bundesregierung – inklusive der Einsicht, dass der Gegenwert „auch nur eines Panzers“ besser in genügend Schutzkleidung investiert worden wäre.
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