Pianisten Lambert und Max Richter: Nachts ist die Welt nicht da
Zwei Pianisten, ein Gedanke: Lambert aus Berlin und Max Richter aus London denken mit ihrer Musik über Schlaf und Dunkelheit nach.
„Ins Bett gehen ist für mich kein schöner Gedanke, da kann ich noch so müde sein. Schließlich schießt man etwas ab, was man noch auskosten möchte“, findet Lambert, Schöpfer sanfter Piano-Stücke. Und schiebt mit einem trockenen Grinsen hinterher: „Morgens sehe ich das dann natürlich anders. Wenn ich schlafe, schlafe ich gerne.“
Eine solche Ambivalenz unseren nächtlichen Auszeiten gegenüber kennen zumindest Menschen mit einer eher eulenhaften Disposition aus eigener Erfahrung. Es ist heutzutage ein Leichtes, sich bis in die Puppen zu beschäftigen. Auf der anderen Seite sind weite Teile der Arbeitswelt größtenteils aber immer noch getaktet wie in agrarischen Zeiten. Dies hat zur Folge, dass immer mehr Menschen zu wenig schlafen – mahnen zumindest die Schlafmediziner.
Doch natürlich darf man in diesem konkreten Fall dankbar sein, dass Lambert nicht abgeschossen hat, was nachts aus ihm raus wollte: zwölf melancholische Klavierstücke mit dem passenden Titel „Stay in the dark“. Über Monate hinweg hat der 33-Jährige sie mit seinem leicht schepprigen, den Nachbarn zuliebe mit Filz gedämpften Klavier eingespielt.
Es gab durchaus pragmatische Gründe, warum die Stücke zu später Stunde entstanden sind. Mit seinen gefälligen, durchaus doppelbödigen Kompositionen und seinem eigenwilligen ästhetischen Konzept – in der Öffentlichkeit zeigt sich der Berliner mit Hamburger Wurzeln stets mit Maske; sie erinnert an eine Antilope, entstammt aber der sardischen Folklore – feierte Lambert in den letzten zwei Jahren große Erfolge. Seither ist er mit Auftragsarbeiten belegt. Die Zeit für Eigenes wurde knapp.
Mischung aus Spannung und Ruhe
Mehr noch sprachen ästhetische Gründe für die Nachtarbeit. Was Lambert beim Lange-wach-Bleiben gern auskostet, beschreibt er als eine spezielle Mischung aus Spannung und Ruhe. „Menschen können sich abends eher auf ein losgelöstes Gespräch einlassen.“ Wobei seine Kompositionen eher zum Selbstgespräch als zum entspannten Geplauder einladen. Die Stücke zwischen klassischer Romantik und modernem Minimalismus haben etwas Introspektives, in sich Versunkenes.
Versuchsweise hat Lambert sie einmal tagsüber eingespielt. „Atmosphärisch hat das leider nicht funktioniert, obwohl sie vom Pianistischen her besser klangen.“ Seine Erklärung dafür ist so einfach wie bestechend: „Nachts leuchtet die Welt da draußen nicht mehr. Deswegen ist sie auch nicht da. Es ist leichter, die Steuererklärung Steuererklärung sein zu lassen.“
Bewusst für Auszeiten entscheiden
Ebenfalls ein Manifest zur Nacht veröffentlicht hat der britische Post-Klassik-Komponist Max Richter. Ihm geht es weniger um die besondere Stimmung, die die Dunkelheit mit sich bringt. Vielmehr erinnert sein Stück „Sleep“ daran, wofür die Nacht vor allem reserviert sein sollte: Schlaf. Seine Komposition für Streicher, Klavier, Elektronik und eine lautmalerisch eingesetzte Stimme bezeichnet er als Einladung, abzuschalten: „Neue Technologien sind toll, doch sie stimulieren ohne Ende unsere Neugierde. Die Kehrseite ist, dass man sich für Auszeiten bewusst entscheiden muss. Ruhe kehrt nicht mehr von alleine ein“, so Richters Beobachtung.
Auch der Brite interessiert sich für ein Reibungsverhältnis: nämlich, wie sich Schlaf und Informationsverarbeitung zueinander verhalten. „Zumindest in der westlichen Welt kuratiert fast jeder Mensch heutzutage sein eigenes Informationsuniversum“, sagt Richter. Die damit einhergehende Vernetzung torpediert unsere Nachtruhe. 24/7-Kommunikationsoptionen sorgen dafür, dass nicht nur unsere elektronischen Endgeräte, sondern wir selbst in einem Always-on-Modus sind.
„Zugleich brauchen wir den Schlaf, besonders fürs Lernen. Während wir abschalten, konsolidieren sich Erinnerungen.“ Unser Gehirn arbeitet nachts so hart wie am Tage. Im Zuge seiner Arbeit hat Richter sich mit dem Neurowissenschaftler David Eagleman über die Wirkung von Klängen auf die Traum-, Leicht- und Tiefschlafphase ausgetauscht. Doch auch wenn „Sleep“ mit Achteinhalbstunden so lange dauert wie ideale Nachtruhe: eine Schlafhilfe oder Abbildung der 90-Minuten-Zyklen, die wir jede Nacht mehrfach durchlaufen, soll das Stück nicht sein – „eher ein kreatives Experiment, bei dem sich Musik und der schlafende Geist treffen“, erklärt Richter.
Nähe zum Wiegenlied
Es gibt eine Kurzfassung, „from Sleep“ betitelt. Das Register wechselt dabei öfter als in der Langfassung. Trotzdem vergeht diese Stunde entschleunigt, es wirkt, als werde man durch wechselnde Landschaften getragen. Richters Musik ist im positiven Sinne einlullend – worin ja schon eine begriffliche Nähe zum englischen Begriff „lullaby“ steckt. Auch in Wiegenliedern fand Richter Inspiration für sein Projekt. „Schließlich sind sie ein universelles Element der menschlichen Kultur.“
Lambert: „Stay in the Dark“ (Staatsakt/Caroline);
Max Richter: „Sleep“ (Deutsche Grammophon/Universal);
Lambert live: 23. 10., FZH Lister Turm, Hannover; 24. 10., Kampnagel, Hamburg; 29. 11., Heimathafen, Berlin, wird fortgesetzt
Auch wenn Richter seine Hörer motivieren will, dem Schlaf Raum zu geben – wie Lambert nutzt er die Nacht gerne zum Arbeiten, am besten geht das für ihn zwischen 21 Uhr und 2 Uhr morgens. „Das Komponieren“, so Richter, „funktioniert ja sowieso eher wie ein Traum als wie Arbeit.“ Alle jene, die das von ihrem Job nicht sagen können, haben mit „Sleep“ nun den Soundtrack zur Nacht, der beim Runterfahren helfen kann – und deutlich interessanter klingt, als man das von konfektionierter Entspannungsmusik ansonsten gewöhnt ist.
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