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Pharmazeutin über Arzneitests im Heim„Impfstoffversuche an Säuglingen“

Ohne ihr Wissen wurden Medikamente und Impfstoffe an Heimkindern getestet. Aufgedeckt hat den Skandal die Pharmazeutin Sylvia Wagner.

In dem katholischen Hans-Sales-Haus wurde Ende der 1950er-Jahre an 28 Kindern ein Neuroleptikum der Firma Merck getestet Foto: dpa
Interview von Valerie Höhne

taz: Frau Wagner, wie kamen Sie auf die Idee, nach Medikamententests an Heimkindern zu suchen?

Sylvia Wagner: Ich kenne aus meinem privaten Umfeld viele ehemalige Heimkinder. Die haben erzählt, dass sie dort mit Medikamenten ruhiggestellt wurden, oft über Jahre. Einige meinten, dass an ihnen Versuche durchgeführt wurden, weil es während der „Behandlung“ auch Untersuchungen gab. Und die Kinder selbst haben sich nicht krank gefühlt.

Was wurde ihnen denn gesagt, wenn sie gefragt haben?

Oft wurde ein „leichter Hirnschaden“ diagnostiziert. Das war dann die proklamierte Ursache der Unruhe, die käme von einem leichten Hirnschaden.

Als Sie sich auf die Suche machten: Was haben Sie erwartet?

Ich habe schon erwartet, Hinweise auf Versuche zu finden. Allerdings habe ich nicht erwartet, dass sie so gut dokumentiert sind. Es ist schon ein Unterschied, ob man etwas ahnt, oder ob man die schriftlichen Beweise findet. Das hat mich erschreckt.

Im Interview: Sylvia Wagner

52, ist Krefelder Pharmazeutin und deckte bei Recherchen zu ihrer Doktorarbeit einen Skandal auf: Bis Anfang der 1970er Jahre wurden in Deutschland Medikamententests, unter anderem Impfstoffe und Psychopharmaka, an Heimkindern durchgeführt. Die Kinder und ihre Eltern wurden darüber nicht informiert. Behörden und Pharmaindustrie waren ebenso involviert wie ehemalige KZ-Ärzte.

Wie haben Sie diese Dokumente gefunden?

Ich hatte die Hinweise aus meinem privaten Umfeld. Dann habe ich die Literatur studiert und bin dabei auf eine Untersuchung über die Weimarer Republik gestoßen. Danach waren Menschenversuche in der Zeit öffentlich in Fachzeitschriften beschrieben, einfach so. Ich habe in ebendiesen Fachzeitschriften nachgeschaut: Mal sehen, was die in den 50er oder 60er Jahren geschrieben haben. Tatsächlich habe ich dort Aufsätze gefunden, in denen sich der Hinweis auf Versuche an Heimkindern fand.

Was für Medikamente wurden getestet, was wurde denn genau gemacht?

Vor allem Impfstoffe und Psychopharmaka. Ein Arzt hat die Folgen sehr genau dokumentiert, da haben die Kinder Schreikrämpfe und Blickkrämpfe bekommen. Ich habe auch Fälle entdeckt, bei denen zum Beispiel Impfstoffversuche an Säuglingen durchgeführt wurden. Das fand ich besonders schlimm. In einem Fall wurde das Rückenmark untersucht. An Säuglingen. Dieses Experiment wurde vom Bundesgesundheitsministerium angeordnet.

Spielten NS-Ärzte eine Rolle?

Ja. Einige waren an den Fleckfieberversuchen im KZ Buchenwald beteiligt. Sie konnten einfach unbehelligt weitermachen. Oder der todbringende „Euthanasie-“Gutachter Hans Heinze: Er war ab 1954 Leiter der Jugendpsychiatrie in Wunstorf. Den Kindern dort verabreichte er Psychopharmaka und sie nahmen an Experimenten teil, ohne es zu wissen.

Wer war für diese Tests verantwortlich?

Die Behörden, die Pharmaunternehmen, die Heime und die Ärzte. Diese Experimente geschahen bundesweit, zum Beispiel für Berlin, München, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen.

Warum haben die Ärzte da mitgemacht?

Ich habe nur einen Hinweis darauf, dass Ärzte bezahlt wurden. Ich glaube, die Hauptmotivation war ein Forschungsinteresse.

Was erwarten Sie heute von den Verantwortlichen?

Dass sie Interesse an einer umfassenden Aufklärung haben, zum Beispiel ihre Archive öffnen und unabhängigen Historikern den Auftrag erteilen, die Fälle aufzuklären. Abgesehen davon, dass es rechtlich wohl schon nicht korrekt war, war es moralisch erst recht nicht in Ordnung.

Könnte so etwas heute noch passieren?

In Deutschland glaube ich nicht. Aber in anderen Ländern ist das möglich.

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9 Kommentare

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  • Unfassbar, dass solche Versuche in einer Demokratie vorkommen konnten. Die Verantwortlichen sollten sich vor Gericht verantworten müssen. Wie können Ärzte nur bei so etwas mitmache. Schrecklich!

  • Ich stelle immer wieder fest,dass diese Welt doch ein unheimlicher Ort ist,an den ich kein zweites Mal zurück muss.Hoffentlich.

  • Kommentar entfernt. Bitte bleiben Sie beim Thema.

  • Nicht in Deutschland?

     

    War es nicht gerade vorletzte Woche, wo Lauterbach (SPD) verlauten liess, er sei unbedingt für die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen mit Alzheimer, gerne auch ohne deren Einwilligung, oder irre ich gerde? Und ist es nicht Herr Gröhe (CDU), also der derzeitige Gesundheitsminister, der in das gleiche Horn tutet und treuherzig ein "bei geringen Nebenwirkungen" nachschiebt, so als könne das irgendjemand im Voraus versprechen?

     

    Und alles gerne auch mit den Argumenten garniert, man fürchte um die freie Forschung und den Forschungsstandort Deutschland?

    • @Lesebrille:

      Ich glaube "nicht in Deutschland" bezieht sich auf die Aufklärung der Fälle.

  • Die Causa erinnert an das regelmäßig wiederkehrende mediale Tamtam um menschenverachtende Arzneimittel-Studien internationaler Pharmakonzerne wie Sandoz in den 80er Jahren in der DDR. (»Das ist russisches Roulette. Schmutzige Geschäfte mit westlichen Pharmakonzernen brachten dem SED-Regime Millionen.« „Spiegel“, 4. 02. 1991. 20 Jahre später von ARD und „Spiegel“ recycelt, wurden diese Vorgänge schon mal als flächendeckende Menschenversuche à la Auschwitz bezeichnet und mit Mengele assoziiert.

     

    Seit 3 Jahren wird nun an der Charité mit Steuergeldern nachgeforscht. Seither war nichts wieder davon zu hören. Dabei hatte schon die 1991 nach diesen Vorwürfen eingesetzte Berliner Senatskommission aus Vertretern von Ethikkommission, Senatsgesundheitsverwaltung und Institut für Arzneimittelinformation sowie Gerichtsmedizinern die Einhaltung aller rechtlichen und wissenschaftlichen Standards bei diesen Studien bescheinigt, die „nicht hinter den Regeln des bundesdeutschen Arzneimittelgesetzes zurückblieben, in einzelnen Punkten sogar darüber hinausgingen.“ Dies hatte auch der Vfa bestätigt: "In der DDR entsprachen die Standards für klinische Studien... dem damals Üblichen: Das DDR-Recht machte Vorgaben..., die mit denen westlicher Staaten und auch der USA vergleichbar waren.“



     

    Vielleicht ist dies der Grund, warum bislang Opfer von Medikamentenmißbrauch in DDR-Kinderheimen offensichtlich noch nicht aufgetaucht sind. Was für einen schönen Medienrummel würde das doch gegeben...

    • @Reinhardt Gutsche:

      Na dann. Recherche einstellen und weitermachen.

  • Götter in Weiß - mit tiefbraunen Hosen!

    Bis in die ÄrzteVertretungen

    Rot-Kreuz Unis&Hochschulen & LKHs

    (hatte LKAs - getippt - auch nicht

    falsch - einschl. BKA&BND!) - ja!

    Aus diesem Sumpf - "der Schoß ist fruchtbar noch" - kroch's!

     

    &

    "…Ich habe schon erwartet, Hinweise auf Versuche zu finden. Allerdings habe ich nicht erwartet, dass sie so gut dokumentiert sind.…"

     

    Da - ist sie wieder mal - gell Schmidt-Schnauze - die von Rotlicht-Oskar

    knochentrocken benannte Preußisch-Deutsche Aktengründlichkeit!

    Auch für's KZ geeignet!

     

    Leider wurde postWK II via Entnazifizierung etc - befeuert durch den Kalten Krieg in West - wie wohl weniger in Ost - erst kaum - dann lange gar nicht - & erst post mortem heute zögerlich Gebrauch gemacht!

    (kam frauman via Gerichtsverfahren an Persi-Akten etc via z.B.

    Archive wie Kornelimünster

    (heute Bundesarchiv https://www.bundesarchiv.de/benutzung/sachbezug/personenbezogen_genealogie/01306/index.html.de https://de.m.wikipedia.org/wiki/Zentralnachweisstelle )

    So war verblüffend - wie pingelig genau die wahren - & anders gelogen vor den Ausschüssen - & durchweg vollständig - die "Karrieren" der Beamten/Profs./Soldaten/SSler/Nazis einschl. der braunen Karrieren - dokumentiert waren/sind!)

    (pps - bei den Jursiten - fanden sie sich gern als Präs. - ja bis BVerfG &

    JuMi - SH - "Charlie" Gaul wieder.

    vgl Furchrbare Juristen by Ingo Müller

    & Braunbuch der DDR - dessen Angaben idR zutreffend sind. https://archive.org/stream/braunbuchBRD/braunbuch_djvu.txt

  • Unter dem Dach der katholischen Kirche ? Was wussten die Oberen davon ? Ja, das waren die goldenen Zeiten der Bundesrepublik; Doppelfettstufe !