Pflegende Jugendliche in den USA: Hausaufgaben auf dem Heim-Parkplatz
Maggie Ornstein pflegt seit 27 Jahren ihre Mutter – keine leichte Aufgabe. In den USA gibt es keine staatliche Pflegeversicherung wie in Deutschland.
Auf einmal war die 17-Jährige in ihrer Familie die Hauptverantwortliche: Ihre Großmutter sei zwar noch recht selbständig gewesen, aber nicht mehr viel aus dem Haus gegangen, sagt sie. „Ich war nicht nur für die Pflege meiner Mutter in der Einrichtung zuständig, sondern auch für meine Großmutter und den Haushalt.“
Heute ist Maggie Ornstein 44 Jahre alt und pflegt ihre Mutter weiter zu Hause: „Ich mache das jetzt seit 27 Jahren, ich bin also pflegende Jugendliche gewesen, pflegende junge Erwachsene, und nun bin ich eine erwachsene Pflegende – aber am jungen Ende des Spektrums.“
Sie erinnere sich daran, schon damals über die mangelnden Strukturen gedacht zu haben: „Es müsste doch nicht so schwer sein.“ In den USA gibt es nach Schätzungen der American Association of Caregiving Youth (AACY) mehr als 5,4 Millionen pflegende Kinder und Jugendliche.
In den USA gibt es ein, in UK 300 solcher Projekte
Die jungen Menschen übernehmen die Sorgearbeit für verschiedene Familienmitglieder: „Die meisten sind Großeltern, gefolgt von Eltern, gefolgt von Geschwistern und von anderen Haushaltsmitgliedern“, sagt Connie Sikowski, Gründerin von AACY.
Sikowskis Organisation hilft pflegenden Kindern und Jugendlichen mit einem Jugendprojekt, das verschiedene Dienste anbietet – um sie beim Lernen in der Schule zu unterstützen oder zu Hause mit Laptops, Schulbedarf sowie der Möglichkeit, Hilfe durch Pfleger*innen zu finanzieren.
Sie ist Pionierin. In Großbritannien, wo auch die rechtliche Situation von pflegenden Kindern und Jugendlichen eine bessere sei, gebe es zum Beispiel etwa 300 solcher Projekte, sagt Sikowski. „Im Moment sind wir in den USA die Einzigen.“
Kinder und Jugendliche, die sich um Angehörige kümmern, gibt es überall. Doch in den Vereinigten Staaten sind die Härten andere: Eine staatliche Pflegeversicherung, ähnlich wie in Deutschland, gibt es nicht. Wer nicht privat vorsorgen konnte, dem greift das Gesundheitsfürsorgeprogramm Medicaid in einigen Fällen unter die Arme, allerdings müssen US-Amerikaner*innen dafür nachweisen, dass sie bedürftig sind.
Ab 65 Jahren können die Betroffenen Medicare für viele Leistungen in Anspruch nehmen, jedoch zahlt das Programm nicht jede Hilfe im Alltag. Veteran*innen und ihre Angehörigen bekommen noch einmal andere Unterstützung. Die Ornsteins fielen bei vielem durchs Raster: Sie habe als junge Pflegende nicht viel Hilfe bekommen, so Maggie Ornstein.
Langzeitpflegeeinrichtung sind schreckliche Orte
Mutter Janet Ornstein konnte zwar Unterstützung von Medicaid in Anspruch nehmen, war aber erst 49 Jahre alt und damit zu jung, um viele Leistungen für ältere Menschen zu bekommen. Ihre Großmutter, die ein Haus im New Yorker Stadtteil Queens besaß, wurde nicht als bedürftig genug für Medicaid eingestuft, erzählt Maggie Ornstein.
„Ich erinnere mich, gedacht zu haben: Aber was ist mit mir? Ich bekomme nichts, weil die eine zwar alt genug ist, aber zu viel Geld hat und die andere zwar arm genug, aber zu jung ist.“
Janet Ornstein blieb insgesamt fünf Jahre lang in verschiedenen Pflegeeinrichtungen. „Wenn man auf Medicaid angewiesen ist und dann in einer Langzeitpflegeeinrichtung ist – obwohl die Regierung so viel dafür bezahlt, sind das immer noch ziemlich schreckliche Orte“, sagt Maggie Ornstein.
Viele Menschen hätten zudem die Vorstellung, dass die Familienmitglieder der Pflegebedürftigen dann entlastet seien – doch auch in diesen Heimen übernähmen die Angehörigen viele Arbeiten, wie eine Studie vom Januar 2022 gezeigt habe.
Diese spricht von Familienmitgliedern als „unsichtbare Arbeitskräfte“ in Pflegeeinrichtungen. Auch Maggie Ornstein verbrachte viel Zeit in diesen Einrichtungen.
Viel Arbeit in der Nacht
Ihre Hausaufgaben machte sie etwa im Auto, wartend auf einen Parkplatz vor dem Pflegeheim, in dem ihre Mutter lebte. „Ich erinnere mich auch, dass ich im ersten Krankenhaus immer auf einer sehr großen Fensterbank saß und meine Hausaufgaben gemacht habe. In den ersten Tagen bestand viel nur daraus, einfach dort zu sein, weil meine Mutter nicht bei Bewusstsein war“, sagt sie. „Und ich habe viel spät nachts gearbeitet.“
Maggie Ornstein machte ihren Schulabschluss und fand ein nahe gelegenes College. Sie hätte gar keinen Job annehmen können zu diesem Zeitpunkt, sagt sie. „Man kann nicht einen Job haben und nicht auftauchen, richtig? Wenn etwas im Krankenhaus passiert ist, konnte ich dagegen meinen Kurs ausfallen lassen und die Lehrer*innen hatten Verständnis.“ Die Schulen könnten die Schüler*innen oft nicht ausreichend unterstützen, sagt auch AACY-Gründerin Sikowski.
Sie litten unter Personalmangel, viele Lehrende hätten während der Pandemie ihren Job aufgegeben. Es komme auch sehr darauf an, wie viel die Schulen über die persönliche Situation des Kindes wüssten.“ Es kann sein, dass die Kinder für etwas bestraft werden, dass in ihrer Situation genau richtig ist“, erklärt sie.
So habe ein Kind einer AACY-Mitarbeiterin erzählt, wegen Verspätung Nachsitzen aufgebrummt bekommen zu haben – weil es der Mutter am Morgen geholfen hatte und es länger dauerte.
Die Lehrer*innen, mit denen AACY zusammenarbeite, seien sehr unterstützend, so Sikowski. Die Organisation hat ihren Sitz in Boca Raton in Florida und hat eine formelles Abkommen mit dem örtlichen Schulbezirk von Palm Beach County, es ist der zehntgrößte Schuldistrikt der USA.
Die Pandemie hat alles erschwert
Wenn die Eltern zustimmen, füllen die Schüler*innen ab der Middle School, also mit 11 Jahren, einen Fragebogen der Organisation aus, mit dem bestimmt wird, ob und welche Pflegelast sie an Schul- und schulfreien Tagen tragen.
AACY arbeitet mit den Kindern, die in ihrer Einstufung die größte Pflegelast tragen – sowohl zeitlich als auch, was die Art der Aufgaben angeht. In der Regel seien das 25 Stunden pro Woche oder mehr, sagt Sikowski.
Manche Aufgaben würden stärker gewichtet als andere: „Kinder, die jemandem beim Essen, Waschen, Anziehen oder bei der Mobilität helfen, bekommen in unserem Index eine höhere Gewichtung als jemand, der beispielsweise einmal pro Woche für die Großeltern einkauft“, erklärt sie.
Die Organisation hat wegen der Zusammenarbeit mit dem Schulbezirk einen festen Lehrplan – von der sechsten bis zur zwölften Klasse bietet sie Gruppen an, die auch ihre Zukunftsplanung betreffen, in denen sie mögliche Karrierewege kennenlernen und von Stipendien erfahren, die ihnen offenstehen könnten.
Die Pandemie hat diese Arbeit in vielerlei Hinsicht erschwert. Familien hätten aus Angst vor Ansteckung etwa seltener eine häusliche Krankenpflege in Anspruch genommen, für die AACY ein kleines Budget habe, sagt Sikowski.
Dementsprechend landete mehr Arbeit bei den pflegenden Kindern und Jugendlichen. Das hatte auch Auswirkungen auf die Bildung der Schüler*innen, mit denen die Organisation zusammenarbeitet: In vorherigen Jahren haben den AACY-Daten zufolge mehr als 90 Prozent von ihnen nach der High School im Anschluss eine weiterführende Bildungseinrichtung wie ein College besucht.
128 Stunden pro Woche
Ende 2021 waren es nur 75 Prozent – da das Coronavirus so vielen Menschen die Jobs genommen habe, hätten viele pflegende Jugendliche arbeiten gehen müssen, um ihren Familien finanziell zu helfen.
Maggie Ornstein kämpft heute für bessere Bedingungen für pflegende Familienmitglieder und dafür, dass Arbeitskräfte in der häuslichen Pflege besser bezahlt werden. Selbst bekommt Ornsteins Mutter derzeit 40 Stunden Arbeitskraft gestellt, deren Kosten von Medicaid übernommen werden.
„Wenn ich das so sage, klingt das nach viel Zeit, oder? Aber es sind immer noch 128 Stunden die Woche, in denen ich wortwörtlich auf Abruf bin“, sagt Ornstein. Ihre Mutter sei nicht selbstständig, da sie starke Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis habe. Sie könne zum Beispiel ohne Hilfe essen, aber das Essen weder alleine einkaufen noch zubereiten.
„Sie würde sich auch nicht daran erinnern, dass sie essen muss“, sagt Ornstein. Generell habe ihre Mutter eine hohe Lebensqualität, da sie und ihr Mann sehr in ihrem Leben involviert seien. Ihre Mutter und sie verbrächten generell viel Zeit zusammen: „Wir gehen zusammen aus – sie liebt Filme, Museen, chinesisches Essen und Eis.“
Ornstein warnt davor, die Belastung nur auf einer individuellen Ebene zu sehen, ohne die Strukturen verändern zu wollen:
„Meine Mutter und ihre Behinderung ist nicht das Problem in meinem Leben. Das Problem ist, dass es keine Unterstützung dafür gibt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland