Peter Altmaier über Flüchtlingspolitik: „Nicht die Finger schmutzigmachen“
Eine Million Flüchtlinge sind 2015 nach Deutschland gekommen. Kanzleramtschef Altmaier über die Politik der Regierung, die EU und den Pakt mit der Türkei.
taz: Herr Altmaier, vielleicht ein Spiel zu Beginn? Ich fange einen Satz an, Sie vervollständigen ihn.
Peter Altmaier: Gerne.
Selbstverständlich handelt die Bundesregierung stets klug und besonnen. Aber besonders stolz bin ich auf die Tatsache, dass ...
... wir es geschafft haben, trotz einer aufgewühlten innenpolitischen Lage zu unseren Überzeugungen zu stehen. Die Bundesregierung und zehntausende ehrenamtlich helfende Menschen haben eine humanitäre Visitenkarte abgegeben, die unserem Land nicht jeder zugetraut hätte.
Dass die linke taz Anfang März auf ihrer Titelseite Liebeserklärungen an die Kanzlerin druckte, deute ich als Zeichen für ...
... dass die taz-Redaktion die Zeichen der Zeit erkannt hat.
Der größte Fehler, den ich beim Management dieser Krise gemacht habe, war sicherlich ...
Wenn man unbedingt von Fehler reden will, dann vielleicht, dass wir das Ausmaß der Herausforderung zu spät erkannt haben. Wenn alle staatlichen Akteure ein halbes Jahr früher mit konzentriertem Management begonnen hätten, wären wir jetzt noch weiter. Das tut mir leid, aber ich schaue nach vorne.
Jahrgang 1958, ist ein deutscher Politiker (CDU), Chef des Bundeskanzleramts und Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung. Seit 1994 ist Altmaier Mitglied des Deutschen Bundestags und vertritt die Interessen seines Wahlkreises (Landkreise Saarlouis und Merzig-Wadern) und die des Saarlandes in Berlin. Von Mai 2012 bis Dezember 2013 war er Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
In der Politik kann man sich seine Partner nicht aussuchen, und genau deshalb ist die Vereinbarung der EU mit dem türkischen Präsidenten Erdogan ...
Eine anspruchsvolle Aufgabe, die wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Bleiben wir bei der Türkei. Die EU hat mit der türkischen Regierung vor drei Wochen ein Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge vereinbart. Sie haben von einem „Wendepunkt“ gesprochen. Was sind die Vorteile dieser Vereinbarung?
Damit können wir die Flüchtlingskrise nachhaltig lösen, ohne unsere humanitären Prinzipien zu verletzen. Die EU hat mit der Türkei im Kern eine Lastenteilung vereinbart. Die Türkei hat bisher rund drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Zweieinhalb Millionen kommen aus Syrien, 500.000 aus dem Irak. Diese Menschen durften bis vor wenigen Monaten nicht arbeiten. Das wird sich jetzt ändern.
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Interview mit Peter Altmaier
Inwiefern?
Die Flüchtlinge dürfen sich künftig in der Türkei selbständig machen oder Arbeit annehmen. Die EU stellt sechs Milliarden Euro bereit, die in Schulunterricht für Kinder, bessere Unterbringung und bessere Gesundheitsversorgung fließen. Zweitens: Die EU und die Türkei haben vereinbart, illegalen Menschenhandel zu unterbinden.
Wichtig ist ein 1:1-Verfahren. Die Türkei hat sich verpflichtet, alle irregulär nach Griechenland übergesetzten Flüchtlinge zurückzunehmen. Für jeden Syrer, der zurückgeschickt wird, soll ein Syrer aus der Türkei legal nach Europa einreisen dürfen.
Richtig. Diese Maßnahme soll das Geschäftsmodell der Schlepper beenden, und zwar sofort. Ein Flüchtling, der damit rechnen muss, zurück in die Türkei geschickt zu werden, bezahlt nicht bis zu 1.500 Dollar für die Überfahrt in einem Schlauchboot. Diese Vereinbarung wird Leben retten. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres sind über 300 Menschen im Mittelmeer ertrunken.
Das heißt: Eine syrische Familie, die in Aleppo ausgebombt wurde, muss in die Türkei zurück. Obwohl sie bisher in Europa Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention bekam?
Das ist richtig. Diesen Schutz bekommt sie in der Türkei, in die sie ja zunächst geflüchtet ist. Ich weise aber darauf hin, dass diese Lösung nicht in erster Linie darauf abzielt, die Zahl der Ankommenden zu senken. Sie soll den Schleppern das Handwerk legen. Diese Familie aus Aleppo hat wesentlich bessere Chancen, nach Europa kommen, wenn sie den legalen Weg wählt.
Aber die Flüchtlingszahlen werden doch massiv sinken.
Jeder Flüchtling, der in Griechenland ankommt, hat weiter ein Recht auf eine Prüfung seines Falls. Wer nachweisen kann, dass ihm in der Türkei politische Verfolgung droht, bekommt Asyl. Alle anderen müssen damit rechnen, zurückgebracht zu werden. Zum Ausgleich gibt es allerdings künftig „Kontingente“. Damit stellen wir sicher, dass Europa auch künftig Flüchtlinge aufnimmt.
Pro Asyl nennt die Verabredung eine „Schande für Europa“. Verlegt die EU ihre Asylpolitik in die Türkei?
Nein. Die EU lagert ihre Asylpolitik nicht aus. Sie haben es selbst erwähnt: Für jeden zurückgeschickten Syrer lässt die EU einen Flüchtling legal aus der Türkei einreisen. Außerdem bekämpft die Bundesregierung gemeinsam mit den EU-Partnern Fluchtursachen. Neun Milliarden Euro sind zugesagt, um die humanitäre Lage in Nachbarstaaten von Syrien zu verbessern – allein zwei Milliarden kommen aus Deutschland.
Die EU möchte aber nur 72.000 Syrer legal aus der Türkei aufnehmen. Alle anderen, etwa aus dem Irak oder aus Afghanistan, bleiben sowieso außen vor. Was ist das anderes als Abschottung?
Die 72.000 Menschen beziehen sich nur auf das 1:1-Verfahren. Ich vermute, dass diese Plätze am Ende gar nicht ausgeschöpft werden. Die Schlepper werden einfach keine Flüchtlinge mehr finden, die für die Überfahrt teuer bezahlen. Entscheidend ist, dass es zusätzlich freiwillige Kontingente geben muss. Wir lassen die Türkei nicht allein. Wir haben eine Lastenteilung vereinbart, und das bedeutet, dass die EU der Türkei in Zukunft auch andere Flüchtlingsgruppen abnehmen muss.
Ist das nicht ein leeres Versprechen? Die Kanzlerin wirbt bis heute vergeblich bei anderen EU-Regierungschefs dafür, größere Kontingente in Europa zu verteilen.
Ich bestreite nicht, dass das Vertrauen in die Regel, die jetzt beschlossen wurde, erst wachsen muss. Aber ich sage auch: Die Gegner unserer Flüchtlingspolitik haben von Anfang an behauptet, Deutschland stünde allein da in Europa. Das kann ich nicht erkennen. Alle 28 Mitgliedsstaaten stehen hinter der aktuellen Vereinbarung. Alle 28 haben Milliardenhilfen für die Türkei zugesagt. Und alle haben im Herbst 2015 gemeinsam beschlossen, 160.000 Flüchtlinge in der EU zu verteilen.
Sogar die Verteilung dieser geringen Zahl funktioniert hinten und vorne nicht.
Die EU lernt in der Flüchtlingspolitik gerade dazu, und zwar in rasantem Tempo. Wir diskutieren in Europa doch nicht zum ersten Mal über Flüchtlinge. Vor Jahren bat Italien um Hilfe, weil viele Menschen auf Lampedusa ankamen. Auch mehrere deutsche Regierungen haben es lange abgelehnt, über eine europäische Verteilung zu verhandeln. Wir haben unsere Position korrigiert. Andere Staaten haben ihre Meinung nicht sofort geändert.
Der türkische Autokrat Erdogan lässt Journalisten verhaften, er bekämpft die Kurden im eigenen Land mit schweren Waffen. Was qualifiziert diesen Mann dafür, die EU-Drehscheibe für Flüchtlinge zu managen?
Ich bitte um Verständnis, dass ich andere Regierungen nicht in Interviews kritisiere. Der humanitäre Kompass der Bundesregierung ist sehr klar. Im Übrigen beherbergt die Türkei seit Jahren Millionen Flüchtlinge und hat sich damit europäischer verhalten als manches Mitglied der EU!
Amnesty berichtet, dass die Türkei Syrer wieder zurück nach Syrien abschiebt, also ins Kriegsgebiet. Warum ist die Türkei ein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge?
Solche Behauptungen werden wir prüfen. Für einen sicheren Drittstaat gibt es klare Richtlinien. Die Bundesregierung und die EU sprechen über diese Punkte mit dem UNHCR, mit der türkischen, der griechischen Regierung und mit anderen Beteiligten. Am Ende muss die griechische Regierung die entsprechenden Entscheidungen treffen. Ich glaube, dass die Türkei insgesamt ein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge ist. Sie hat bewiesen, dass sie gut mit Flüchtlingen umgeht. Wie gesagt, dort leben bereits drei Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak – und zwar in Sicherheit.
Gehört es zu den Dilemmata der Flüchtlingspolitik, dass es keine Lösung gibt, bei der man sich nicht die Finger schmutzig macht?
Wir machen uns nicht die Finger schmutzig. Aber in der Tat operieren wir in einem Widerspruch. Einerseits versuchen wir nach unseren Werten zu handeln, also Menschen in Not zu helfen. Andererseits können wir Realitäten nicht verleugnen. In vielen Kommunen leben Flüchtlinge seit Monaten in Turnhallen, weil es keine Wohnungen gibt. Solche Belastungen müssen wir zur Kenntnis nehmen. Neulich habe ich mit Mark Zuckerberg, dem Facebook-Chef, über die Flüchtlingspolitik geredet ...
... jetzt wird es interessant. Wie fand er sie?
Zuckerberg hat bei diesem Besuch öffentlich gesagt: Gut, was ihr da macht. Die USA können sich etwas davon abschauen. Politiker, wichtige Köpfe in der Wirtschaft und Menschenrechtsaktivisten in aller Welt beobachten gerade sehr genau, was in Deutschland und Europa passiert. Wenn das europäische Beispiel dazu führt, dass andere Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen, wäre viel gewonnen.
Die Welt lernt von Deutschland?
Das wäre vermessen. Aber es bildet sich gerade weltweit ein neues Bewusstsein für den Umgang mit Geflüchteten.
Im Laufe der Krise wirkte die EU so zerstritten, dass man sich Sorgen um ihren Fortbestand machen konnte. Ist es in Wirklichkeit ein historischer Erfolg, dass sich alle Staaten hinter der Türkei-Vereinbarung versammeln?
Die EU ist keine Selbstverständlichkeit. Dieses historisch einzigartige Projekt muss jeden Tag neu verteidigt werden. Die Bundesregierung hat in der Flüchtlingskrise alles dafür getan, dass der Laden zusammenbleibt. So werden wir weiter vorgehen. Die EU wird auch die Griechen nicht mit seinen Problemen allein lassen.
Der EU wird dies umso leichter fallen, weil durch das Türkei-Abkommen kaum noch Flüchtlinge in Griechenland ankommen.
Durch die Vereinbarung mit der Türkei wird die deutsche Regierung nicht weniger humanitär agieren als bisher. Im Gegenteil. Die Vereinbarung ermöglicht es uns, an unserem Kurs festzuhalten. Wir wollen keine Festung Europa, die sich hermetisch abschottet, auch wenn Europa selbstverständlich seine Außengrenzen schützen muss.
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