Peru ein Jahr nach dem Selbstputsch: Resigniert und wütend
In Peru herrschen Straflosigkeit, Korruption und Gewalt. Ein Justizskandal und die Begnadigung eines Ex-Diktators könnten nun eine Wende auslösen.
Vor einem Jahr jedoch stand Juliaca still. Am 7. Dezember 2022 hatte sich Präsident Pedro Castillo in Lima selbst aus dem Amt geputscht, wurde abgesetzt und verhaftet. Die Anhängerschaft des ersten indigenen Präsidenten Perus lebte vor allem im von Quechua und Aymara bevölkerten Süden Perus und protestierte gegen die Absetzung und Verhaftung Castillos durch den Kongress und die Ernennung der bisherigen Vizepräsidentin Dina Boluarte.
Fast drei Monate lang blockierten die Menschen Straßen und Zufahrtswege, die Händler schlossen ihre Stände, Busfahrer ließen ihre Busse zu Hause, Tausende machten sich auf den Weg in die Haupstadt Lima um zu protestieren. Drei Monate lang lag das öffentliche Leben in den südlichen Anden lahm.
Am Ende der Proteste standen 49 von Polizei und Militär getötete Demonstranten oder einfache Passanten, alle Quechua oder Aymara-Indigene; unzählige Verletzte, verarmte Händlerinnen und Händler – und eine Regierung und ein Parlament in der Hauptstadt, die sich gegenseitig stützten im Willen, an der Macht zu bleiben und die jegliche Verantwortung für die Toten und Aussicht auf Neuwahlen ablehnten.
Sechs Präsidenten in sechs Jahren
„Die Verletzten und Toten wurden direkt von vorne und aus nächster Nähe erschossen“, sagt Lucho Zambrano. Der 77-jährige katholische Priester hat die Opfer im Krankenhaus besucht, hat Messen mit den Angehörigen gelesen, hat das, was er mit eigenen Augen gesehen hat, zigmal ausländischen Untersuchungskommissionen erzählt und ist auf Youtube viral gegangen, wie er die von Angehörigen gesammelten Tränengaskartuschen und Gummigeschosse in seiner Kirche verteilt. Nichts davon hat die peruanische Regierung und das Parlament beeindruckt.
Ein Jahr nach der Absetzung von Pedro Castillo und dem Beginn der Proteste herrschen in Juliaca Resignation und stille Wut. Nicht, dass Regierung und Parlament im Rest des Landes beliebter wären. Über 90 Prozent der Bevölkerung lehnen das Parlament ab, 85 Prozent die Präsidentin Boluarte. Doch die wirtschaftliche Rezession und die Angst vor weiterer Polizeigewalt hält viele ab vom Demonstrieren.
In Peru sind politische Parteien heute kurzfristige Wahlbündnisse, um gemeinsame Pfründe zu sichern. Dina Boluarte ist die sechste Präsidentin Perus in sechs Jahren. Fünf Präsidenten seit 2000 sind wegen Korruption und Menschenrechtsvergehen im Gefängnis oder im Hausarrest. „Präsident von Peru zu sein gleicht einem Selbstmordkommando“, sagt einer von ihnen, der heute 85-jährige Pedro Pablo Kuczynski.
Übrig bleiben die politischen Glücksritter, denen es nie ums Gemeinwohl, sondern nur ums eigene kurzfristige Wohl geht. Dafür demontieren sie die wenigen politischen Institutionen Perus, die noch funktionieren: das Verfassungsgericht, die Ombudsstelle. Obligatorische Vorwahlen in den Parteien wurden abgeschafft. Eine zweite parlamentarische Kammer – der Senat – für ehemalige Abgeordnete wurde in erster Lesung vom Parlament angenommen und soll in der nächsten Legislaturperiode bestätigt werden.
Streit um die Unabhängigkeit der Justiz
Doch der Versuch, den Obersten Justizrat, zuständig für die Einsetzung von Richtern, Staatsanwälten und Leitern der Wahlbehörden, zu intervenieren, ist vorerst gescheitert. Das liegt auch am jüngsten Skandal um die Generalstaatsanwältin Patricia Benavides. Die stand bereits unter Verdacht, in wichtige Verfahren zugunsten von Verwandten oder der Korruption Angeklagter eingegriffen zu haben. Chatmitschnitte eines engen Mitarbeiters von Benavides weisen nun auf Absprachen zwischen Abgeordneten und der Generalstaatsanwaltschaft hin, um sich gegenseitig vor weiteren Untersuchungen zu schützen.
„Das ist laut unserem Gesetzbuch eine kriminelle Vereinigung“, meint die Justizexpertin Cruz Silva von der Menschenrechtsorganisation Instituto de Defensa Legal. Sie hofft, dass der Skandal um die Generalstaatsanwältin nun die Menschen in der Hauptstadt wieder auf die Straße bringt, und der erste Stein sein könnte, der das korrupte Kartenhaus zum Einsturz bringt.
Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 5. Dezember fügte weiteren Zündstoff zu: es weist die Exekutive an, den wegen Menschenrechtsvergehen seit 16 Jahren inhaftierten Ex-Präsidenten Alberto Fujimori unverzüglich freizulassen. Damit setzt das Verfassungsgericht einer Begnadigung Fujimoris aus humanitären Gründen aus dem Jahr 2017 wieder in Kraft, die vom Interamerikanischen Menschengerichtshof 2022 kassiert worden war. Dieser hat die peruanische Regierung bereits davor gewarnt, diese Begnadigung zu vollstrecken. Der Fujimori-Clan spaltet bis heute die peruanische Gesellschaft.
Zeitgleich mit den Aufrufen zu neuen Protesten am 7. Dezember, dem Jahrestag der Absetzung Castillos, und den Protesten gegen die Freilassung Fujimoris hat die Regierung neue Strafen erlassen für das Behindern öffentlichen Verkehrs und der Beschädigung öffentlichen Eigentums. Bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafen können Demonstranten dafür riskieren.
In Juliaca hat der Protest längst andere Wege gefunden. Bei Hochzeiten, Festen und sogar auf Schulhöfen, singen Brautleute, Feiernde und Schulkinder den Ohrwurm des Protestjahres 2023: „Esa democracia ya no es democracia“ – diese Demokratie ist keine Demokratie mehr.
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