PARLAMENT IN KABUL VERHINDERT AUFARBEITUNG DER VERGANGENHEIT: Persilschein für die Warlords
Das afghanische Parlament hat dafür votiert, die Kriegsverbrechen der vergangenen Jahrzehnte nicht zu bestrafen. Mit dem Amnestiegesetz solle der Versöhnungsprozess gefördert werden, argumentieren die Befürworter. Zwar muss der Senat das Votum noch bestätigen und der Präsident das Gesetz unterschreiben. Doch Beobachter haben keine Zweifel, dass es die Warlords mit ihrer Mehrheit im Parlament geschafft haben, sich einen Persilschein für die Vergangenheit auszustellen.
Menschenrechtsorganisationen bemühen sich seit Jahren, die dunkle Kriegsvergangenheit Afghanistans zu dokumentieren. Ihren Berichte weisen darauf hin, dass zu Kabuls Politelite einige der größten afghanischen Kriegsverbrecher gehören. Mohammed Kasim Fahim, dem obersten Präsidentenberater, wird als ehemaligem Sicherheitschef der Mudschaheddin die Mitverantwortung für Massaker und Massenvergewaltigungen im Kabuler Stadtteil Afschar vorgeworfen. Ebenso wie Abdul Rasul Sayyaf, der heute dem Auswärtigen Ausschuss vorsitzt. Karsais Vizepräsident Karim Chalili soll früher für die systematische Folterung Gefangener und politischer Gegner gesorgt haben. Dem Exgeneral und Karsais späterem Militärberater Abdul Raschid Dostum werden Menschenrechtsverletzungen während der sowjetischen Besatzungszeit vorgeworfen. Die Liste lässt sich fortsetzen – doch keiner der Täter wird sich in der nächsten Zeit vor Gericht verantworten müssen.
Das Votum des Parlaments in Kabul ist die logische Konsequenz eines Prozesses, der vor mehr als fünf Jahren seinen Anfang nahm. Zu lange hat die internationale Gemeinschaft ignoriert, wen sie in Afghanistan an die Macht befördern half. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen, lautet bis heute die Devise, während lautstark Truppenverstärkung und Milliardenhilfen verkündet werden. Dabei hatte die Arbeit der 2002 eingerichteten afghanischen Menschenrechtskommission zunächst Anlass zur Hoffnung gegeben. Gemeinsam mit Vertretern der afghanischen Regierung und der UN-Mission für Afghanistan hatte die Kommission einen Aktionsplan für Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit ausgearbeitet.
Der im Juni 2005 beschlossene Plan sollte einen Rahmen für den Aufarbeitungsprozess der Kriegsverbrechen der vergangenen Jahre bieten. Er orientierte sich zwar „an der Realität des Landes“ und betonte „symbolische Maßnahmen, institutionelle Reformen, Wahrheitssuche, Dokumentation und Versöhnung“. Er nannte jedoch explizit auch die Einrichtung von Mechanismen der strafrechtlichen Verfolgung der Kriegsverbrecher als Aufgabe von Regierung und Parlament. Keine Amnestie – diese beiden Worte sind im Aktionsplan unterstrichen. Keine Amnestie für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Menschenrechtsverletzungen.
Im September 2005 wurde gewählt – mit dem bekannten Ergebnis. Unter dem Druck der Warlords wurde die Umsetzung des Versöhnungsplans immer wieder hinausgezögert. Ob es zeitnah zu Anklagen und Prozessen gekommen wäre, war angesichts der mangelnden Reformen im Justizsektor zwar fraglich. Kriegsopfer oder deren Angehörige hätten wohl kaum ihre Aussagen vor Richtern gemacht, denen sie zutiefst misstrauen. Doch sie konnten zumindest auf eine Politik der kleinen Schritte hoffen. Diese Hoffnung haben die „Volksvertreter“ in Kabul nun zunichte gemacht. Das ohnehin schwindende Vertrauen der Afghanen in die Regierung Karsai und in eine gewaltfreie Zukunft dürfte damit noch geringer werden. ANETT KELLER
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