Peinliche Momente: Mein Krampf

Die Auslöser von Scham sind verschieden. Fünf AutorInnen über fünf Dinge, für die sie sich schämen.

ein Kind hält die Hände vors Gesicht

Mach, dass das weggeht Foto: Caleb Woods/unsplash

Mach doch, was du willst!

Manchmal liege ich im Bett und schaue Backtutorials. Ich beobachte fremde Hände beim Eiertrennen und Teigkneten und sehe zu, wie eingefärbter Zuckerguss auf glänzende Küchenzeilen tropft. Aber ich mag keinen Kuchen. Und ich backe nie.

„Ach, das ist halt mein guilty pleasure“, sage ich dazu, wenn die Tutorials wieder ganz oben im Suchverlauf stehen. Meine FreundInnen nicken dann verständnisvoll. Sie alle lesen, schauen oder essen heimlich Dinge, die nicht cool sind.

Einer sieht sich beispielsweise leidenschaftlich gerne Führerstandsmitfahrten an. Das sind Videos, für die eine Kamera vorne am Zug angebracht wird. Seine Lieblingsstrecke ist Bergen–Oslo, acht Stunden norwegische Hochebene mit Schnee und Tunneln. Schuldig fühle er sich dafür nicht, sagt er. Aber er grinst viel, wenn er davon erzählt, ganz so, als wolle er seinem Gegenüber sagen: Ich weiß ja selbst, dass das Quatsch ist!

Und ich verstehe ihn. Niemals würde ich sagen: „In meiner Freizeit lerne ich Altgriechisch, das ist mein guilty pleasure.“ Nein, ich schäme mich nur für die Dinge, die mich faul oder einfältig wirken lassen. Alte Pur-Platten höre ich bloß ironisch, klar, und bei Dauerwerbesendungen bleibe ich nur hängen, weil die Fernbedienung kaputt ist.

Aber das ist falsch. Ich finde, wir sollten aufhören, uns für schöne Dinge zu schämen. Weil sonst vielleicht der Tag kommt, an dem wir sie sein lassen, ein Sonntagnachmittag, an dem wir besteckputzend auf dem Laufband stehen und dabei Kantonesisch lernen. Dann sind wir zwar die perfekten SelbstoptimiererInnen. Aber richtig glücklich sind wir nicht. Sara Wess

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Mach das weg, das ist zu viel!

Natürliche Haarpracht und zwar überall. Kein Rasieren, Epilieren, Zupfen, Lasern. Keine Rasur auf den Beinen oder unter den Achselhöhlen nach den Wünschen des Patriarchats – in den siebziger Jahren galten Körperhaare als politisches Statement sexuell befreiter Weiblichkeit und wurden verteidigt. Lass wachsen statt waxen.

Als ich damals zum ersten Mal meine angeheiratete tunesische Familie besuchte, wollte ich nur den besten Eindruck hinterlassen. Auf die sehr freundlich und mehrfach wiederholten Angebote meiner Schwiegermutter und Schwägerinnen, mir ein Ganzkörperpeeling mit einer Zucker-Zitronensaft-Wasser-Mischung zu verpassen, reagierte ich zunächst ablehnend, irgendwann völlig irritiert und schließlich resigniert zustimmend.

Durch das Aufkochen der drei Zutaten erhält man eine zähe Masse, die auf die zu enthaarenden Stellen aufgetragen und mit Hilfe eines Tuchs oder den Fingern wieder abgezogen wird. Glatte Haut, überall. Nur mein Gesicht konnte ich vor dem klebrigen Zugriff retten.

Es tat weh. Aber es tat vor allem weh, mich mit ihren Augen zu sehen – ungepflegt, unhygienisch. Ein Empfinden, wie es bei mir heute die sprießenden Bärte der neuen Islamisten in den Straßen von Tunis auslösen. Ganzkörperenthaarung ist, besonders für Frauen, in der muslimischen Kultur Reinlichkeitsgebot und Schönheitsideal. Und nicht nur da. Auch die Mosaiken der phönizischen und römischen Epoche im Bardo-Museum von Tunis zeigen nur glatte Männer- und Frauenkörper.

Mein um Haaresbreite verpatzter Antrittsbesuch bei der Schwiegermutter war eine nachhaltige Verunsicherung und eine peinliche Lektion im kulturellen Perspektivwechsel. Ich jedenfalls waxe bis heute. Edith Kresta

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Bitte mach, dass das nicht passiert ist!

Aufgewachsen bin ich in Baden-Württemberg, da war es üblich, dass man gläubig war. In meinem Dorf fühlte es sich an, als gäbe es nur einen Weg, richtig zu glauben, und der hieß: katholisch zu sein. Die Dorfkirche war mit goldenen Engeln verziert, vor der Erstkommunion fragte ich meine Mutter, was ich bei der verpflichtenden Beichte wohl beichten könne. Und in Klasse 6 war ich längst daran gewöhnt, Gebete zu schreiben.

Mein Religionslehrer ließ sie uns selbst verfassen. Nach und nach musste jeder sein Gebet zu Beginn einer Stunde vorlesen. In meiner Erinnerung, die meinen Scham-Moment nicht verklärt, sondern verschlimmert haben mag, mussten wir dabei sogar stehen.

Ich stand also und las mein Gebet vor, auf das ich eigentlich ziemlich stolz war. „Lieber Gott …“, fing es an, logisch, so fingen es bei allen an. Aber anders als die anderen hatte ich nicht einfach an mich und meine Familie gedacht, nicht an die Opfer des Bürgerkrieges in Nepal und der sonstigen Bürgerkriege dieser Welt.

Ich betete für Tiere.

Und zwar für die kleinsten.

In vielen drastischen Worten bemängelte ich, wie rücksichtslos die Menschen waren. Und dass sie, „zum Beispiel, wenn sie einen Käfer zertreten, oft gar kein schlechtes Gewissen haben“.

Es war ein Gebet für mehr Respekt – und ich konnte kaum zu Ende beten, da kicherten die ersten schon. „Käfer“, „Käfer“, „Käfer“ drang es aus allen Klassenzimmerecken, und als wäre das nicht genug, befand mein Lehrer mit einem Lächeln: „Das finde ich schön, dass du dich der Käfer angenommen hast!“

Noch Jahre später wurde ich auf mein Käfer-Gebet angesprochen. Es dauerte lange, bis mir dämmerte, was ich eigentlich falsch gemacht hatte: Ich war 11 oder 12 gewesen, und damit im falschen Alter noch kindlich. Annabelle Seubert

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Mach jetzt bloß nichts falsch!

Als krankhafter Perfektionist erlaube ich mir – „mir erlauben“ ist wortwörtlich zu verstehen – so gut wie keine Fehler. Jede Macke, jede Ungenauigkeit beschämt mich: ein Witz, bei dem keiner lacht, ein eingebrachter Fakt, der sich als falsch erweist, eine Unbeherrschtheit oder Ungeschicklichkeit.

Entsprechend fängt meine Scham oft schon vorm Ereignis an: Meine vielleicht größte Angst ist, bei einem Fehlverhalten ertappt zu werden. Deswegen habe ich als Teenager nie Ladendiebstahl probiert (gut). Deswegen würde ich mich nie trauen, eine andere Person einfach zu küssen, selbst wenn alles Zwischenmenschlich-Atmosphärische dafür spricht, allein die Erwartung eines „Wie konntest du ernsthaft glauben, dass ich das auch will?“-Talks lässt mich erstarren (weniger gut).

Deswegen sage ich Freunden ungern, wenn mir gewisse Dinge an ihnen nicht passen – weil so ein Gespräch dazu führen kann, dass sie es umgekehrt auch tun. Ich schweige lieber (auch nicht so gut).

Mein Scham geht so weit, dass ich auch dauernd Fremdscham empfinde, wenn Leute in Filmen oder Serien in ähnlich schambesetzte Situationen geraten oder auch nur möglicherweise zu geraten drohen. Leider fällt mir dazu jetzt kein gutes Beispiel ein, und dafür schäme ich sehr. Michael Brake

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Hab ich das gerade wirklich gemacht?

Mitten in dem riesigen Garten hinter dem Mehrfamilienhaus, in dem ich groß wurde, stand ein riesiger Walnussbaum. Ich verbrachte oft Zeit in diesem Garten, saß auf der grünen Plastikbank unter dem Baum und hörte auf meinem ersten Walkman eine Kassette mit aus dem Radio aufgenommen schwülstigen Popsongs. Eines Tages hatte ich plötzlich das große Bedürfnis, den Walnussbaum zu umarmen.

Ich stellte mich auf die Bank und tat es. Höchstens ein paar Sekunden, dann hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich drehte mich, den Baum noch umschlungen, um und sah meine Mutter am Fenster stehen und den Kopf schütteln.

Bis heute schäme ich mich dafür. Ich habe nie wieder einen Baum umarmt. Ich wüsste auch nicht, warum. Und ich weiß bis heute nicht, woher der Impuls kam, es damals zu tun. Doris Akrap

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