Paris nach der Wahlnacht: Ein mehrfach gespaltenes Land
Am Tag nach der Wahl gehen tausende Linke gegen Macron auf die Straße. Andere geben dem Neuen eine Chance. Ein Stimmungsbild aus Paris.
Marine Le Pen wirbelt derweil zu Rock ’n’ Roll im Bois de Vincennes ihren Lebensgefährten Louis Ailot vor den Kameras herum – hat sie die Macht eigentlich wirklich gewollt? Kurz nach 20 Uhr hat sie bereits ihre Niederlage eingestanden, eine Neuausrichtung des Front National angekündigt, was immer das auch heißen mag, und sie will den Parteinamen ändern. So viel zum Etikettenschwindel.
Im Hof des Louvre dauert Macrons einsamer Gang vier Minuten, und man kann sich jetzt schon vorstellen, dass er noch oft allein sein wird, umzingelt von den verschiedensten Interessengruppen. Denn Frankreich ist nach dieser Entscheidung ein mehrfach gespaltenes Land. Jeder dritte Franzose, jede dritte Französin hat den reaktionären, rechtsextremen Front National gewählt, auch wenn Marine Le Pen nur noch in 2 von 101 Départements gesiegt hat.
Und Macron weiß auch, dass mindestens zwei Drittel seiner Wählerschaft aus Verlegenheit für ihn gestimmt hat, nicht aus Überzeugung. „Ich verstehe die Vorbehalte … ich will ein Präsident für Sie alle werden“, gibt der 39-Jährige treuherzig zu Protokoll – vor der Kulisse der gläsernen Louvrepyramide und während der Siegesfeier mit rund 30.000 Anhängern, sehr viele von ihnen unter 35.
Alles andere als ruhig
Am Tag danach, wegen der Siegesfeiern zum 8. Mai 1945 ein Ruhetag in ganz Frankreich, ist die Stimmung alles andere als ruhig. Gefühlt an sämtlichen Fronten wird weiter debattiert, ob öffentlich oder privat. Mit wem macht Macron ab nächste Woche seine Regierung? Wer wird Premierminister? Und wie stellt sich En marche! für die Parlamentswahlen im Juni auf?
Sogar die Sonne hat sich ganz kurz für diesen Politmarathon ins Zeug gelegt, nach einem komplett grauen Nieselsonntag nimmt sie am Montag die Parade am Arc de Triomphe ab. Dort legen Macron und Hollande gemeinsam einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten ab, und dort sieht der Neue den Alten, seinen früheren Chef, wortlos an, als wolle er sagen: „Nimm’s nicht persönlich, aber das musste jetzt sein.“
Musste das wirklich sein? Für militante Anhänger des im ersten Wahlgang mit fast 20 Prozent der Stimmen unterlegenen Linken Jean-Luc Mélénchon, hätte die Wahl Macrons gar nicht erst passieren dürfen. Ihre Antwort lautet am Montagabend im linksalternativen Pariser Viertel Ménilmontant und in anderen französischen Großstädten: vermummter Rabatz mit der Polizei, eingeworfene Schaufensterscheiben, über 140 Festnahmen allein in Paris.
An der nicht weit von Ménilmontant entfernten Place de la République, einer der symbolischen linken Sammlungsorte der Hauptstadt, bleibt es dagegen ruhig. Unter der Statue der gusseisernen Marianne sitzt bei Dosenbier Elise Piat, es ist kurz nach Mitternacht am Montag, und knapp über Elise prangt ein giftgrünes Graffito „Nique le FN!“ – Fick dich, Front National!“ Piat, Doktorandin der Geografie, Ende 20, freut sich über Macrons Sieg, auch wenn er nicht wirklich für das stehe, was sie sich an politischer Gestaltung vorstelle. „Linksliberal ist er nun wirklich nicht, wie es so oft heißt.“
Genug vom ständigen Stillstand
Nein, Macron sei neoliberal – sozialliberal, „wenn’s hochkommt. Ein Zögling Hollandes eben, aber dann wieder denk ich: Hey, der ist jung, meine Generation, warum geben wir ihm nicht einfach eine Chance?“ Viel zu oft sei es eben so in Frankreich, „dass ständiges Herumkritteln zu Stillstand und Pessimismus führe. Und die beiden hatten wir jetzt lange genug.“
Dieses Gefühl zieht sich auch durch die kreischend laute Wahlparty Macrons am Louvre, die von mediokrer Dancefloormucke unterlegt ist. Musikalisch hätte die Jugend Besseres verdient, aber nun gut. Auffällig am Sonntagabend: Nicht wenige Frauen mit Kopftuch sind unterwegs, Macron zu feiern.
Malika Hadji hat marokkanische Wurzeln, lebt im Pariser Vorort La Défense. Die Hausfrau, angetan mit Europa- und Frankreichfahne, ist samt Kindern gekommen. Der achtjährige Said turnt auf einem Laternenpfahl herum, um den Sieger besser erspähen zu können. Hadji hält ihre Tochter Aicha fest im Arm. „Hoffentlich entspannt sich mit Macron die Situation für uns Muslime im Land. Ich bin es leid, ständig auf mein Kopftuch verwiesen zu werden. Wir brauchen wieder die wirkliche Trennung von Staat und Kirche. Mein Kopftuch geht nur mich was an.“
Boris Labris ist da ganz anderer Ansicht. Als überzeugter Le-Pen-Anhänger prophezeit der 41-jährige Techniker einen Sieg Le Pens 2022, „denn die Leute werden sich noch umschauen: Macron fährt Frankreich gegen die Wand.“ Warum er ausgerechnet auf dessen Wahlparty ist? „Bei ihm kannst du gut tanzen! Auch wenn du von Schwachköpfen umgeben bist.“
Boris Labris, Le Pen-Anhänger
Dort, wo tief unter dem Rednerpult von Macron, im Einkaufszentrum Carrousel de Louvre, im Februar noch eine terroristische Messerattacke stattgefunden hatte, dort laufen die Anhänger von En marche wie junge Hunde am Sonntag hinein ins Rund. Auf France 2 spricht derweil eine sichtlich erleichterte Ségolène Royal, die Exfrau von François Hollande und noch sozialistische Umweltministerin, von „einem überfälligen Generationenwechsel“.
„Wir sind offen für alle bei Sozialisten und Konservativen, die nach vorne wollen“, betont denn auch gestern Christophe Castaner, der Sprecher von Macron. Selbst eine doppelte Parteimitgliedschaft sei möglich, wenn man sich nur verpflichte, unter dem „En marche!“-Logo im Juni in die Nationalversammlung einzuziehen. Ungewohnte Töne der Öffnung und der Flexibilität, aber um zum Regieren mindestens 289 der 577 Sitze in der Nationalversammlung zu kriegen, bleibt Macron und den Seinen nichts anderes übrig.
Gegenwind der Straße, zumindest von einem Teil der mächtigen französischen Gewerkschaftsbewegung, gibt es sofort am Montagnachmittag auf der Place de la République. Sogar nach dem Amtsantritt von Sarkozy 2007 dauerte es ein paar Tage, bis wieder demonstriert wurde. Doch jetzt: „Macron, wir gehen dir brutal an den Kragen!“ heißt es auf Plakaten, „Wir lassen uns nicht verarschen!“, aber auch „Nur die Liebe rettet den Planeten!“
Elise Piat, Geografie-Doktorandin
Der altbekannte „Front social“, ein Kollektiv verschiedener ultralinker GewerkschafterInnen, hat zum Protest aufgerufen – nicht aber die Spitzen der großen Gewerkschaften, wie die CGT, die sich für Macron ausgesprochen hatte. Rund 2.500 Menschen sind gekommen, erwartet hatte man mehr.
„Macron wird aus dem Stand mit Erlassen und nicht mit Parlamentsbeschlüssen regieren. Und er wird ultraneoliberal das momentan ausgesetzte Arbeitsmarktgesetz durchdrücken, die Arbeitslosenversicherung kürzen“, warnt Mark Dagobert, 40, und Anhänger einer trotzkistischen Pariser Gruppe. „Wenn sich die echten Linken nicht zusammentun, sind wir weg vom Fenster.“ Was Frankreich jetzt braucht? „Auf jeden Fall keine Vorschusslorbeeren, keine Schonung für Macron.“ Dagobert verkauft die Zeitung Toute la Vérité“ – Die ganze Wahrheit – für 1 Euro. „Die ganze Welt braucht eine Revolution, der Kapitalismus ist am Ende.“
Wie aber hatte Macron noch kurz zuvor am Louvre aus seinem, in guten Momenten Kennedy’schen Charme Kapital geschlagen? „Das ist eben Frankreich, so was völlig Unerwartetes wie meine Wahl kann nur in Frankreich passieren.“ Die Dankesmail an seine Fans in der Siegesnacht lautete dann schlicht: „Tout commence“. Alles auf Anfang. Wenn es doch nur so einfach wäre!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind