„Para“-Regisseur über Authentizität : „Echte Geschichten echter Menschen“
Mit „Chiko“ und „4 Blocks“ ist Özgür Yıldırım bekannt geworden. In Hamburg-Dulsberg, wo er aufgewachsen ist, entstanden seine ersten No-Budget-Filme.
taz: Özgür Yıldırım, wie kommt man darauf, Sie als Regisseur zur Neuauflage des Märchenklassikers „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ in Betracht zu ziehen, wo Sie doch eigentlich für Kiez- und Milieufilme bekannt geworden sind?
Özgür Yıldırım: Das hatte ich mich seinerzeit auch kurz gefragt und sehr über die Vorstellung gefreut. Mittlerweile komme ich aber gar nicht mehr dafür infrage. Das Projekt ist aus verschiedenen Gründen nicht mehr aktuell.
Aber wenn es ein Kind vom ehemaligen Hamburger Brennpunkt Dulsberg wie Sie drehen würde: Käme Aschenbrödel dann aus Billstedt und ihr Prinz aus Eppendorf?
Nee, der Stoff war schon in der historischen Märchenwelt gedacht, aber natürlich mit viel mehr Bezügen zur heutigen Gesellschaft.
Wo fühlen Sie sich künstlerisch denn wohler – in Märchen oder im Hyperrealismus der Serie „Para“, in der Sie vier sozial unterprivilegierte Frauen aus dem Berliner Wedding porträtieren?
Ich fühle mich immer dort am wohlsten, wo selbst Märchenstoffe Anker in eine Realität werfen, die mich auch persönlich interessiert. Deshalb ist für mich am wichtigsten, dass mich Stoffe berühren und etwas auslösen. Bei „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ wäre es der Umgang jüngerer Menschen mit Romantik gewesen, die im Original ja eher lieblich dargestellt wurde. Würde er nicht auch bei mir so viele Kindheitserinnerungen wachrufen, wäre der Film, objektiv betrachtet, naiv erzählt.
Haben Sie auch einen naiven, ghettoromantischen Blick auf Dulsberg, wo Sie in den Achtzigerjahren aufgewachsen sind?
Dass ich die Dinge dort durchaus romantisiere, merkt man manchen meiner Filme und Serien sicherlich an. Wichtig ist dabei, autobiografische Verklärung nie in dramaturgischen Kitsch übergehen zu lassen. Erinnern Sie sich an „Trainspotting“?
ist 1979 in Hamburg-Dulsberg geboren und dort aufgewachsen. Seine Eltern sind als sogenannte „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Hamburg gezogen. Mit dem Film „Chiko“, der 2007 erschien, gelang ihm als Regisseur der Durchbruch. Seit April läuft auf dem Sender TNT die Serie „Para – Wir sind King“, bei der Yıldırım Regie führte.
Einer der wichtigsten Filme der Neunziger.
Der hat es als erster Film überhaupt geschafft, Junkies zu romantisieren, ohne Drogensucht zu verharmlosen – ganz einfach, in dem man die Perspektive der Protagonisten einnimmt, anstatt von oben herab über sie zu berichten, sondern aus ihrer Welt heraus. Das ist mir auch in meinen Filmen immer wichtig. Natürlich ist und bleibt Heroin ein knallharter Stoff. Er dient in „Trainspotting“ aber auch dazu, seinen Figuren Hoffnung zu machen.
Bringen Sie für Ihre Filmfiguren denn größere Solidarität mit, wenn die Ihrer eigenen Biografie näher sind?
Was heißt näher – im Gegensatz zu vielen meiner Filmfiguren, hab’ ich ja einen eher bürgerlichen Hintergrund. Abi, Zivildienst in einer Dialysestation, dann bin ich aus Dulsberg weggezogen.
Das damals aber schon ein sozialer Brennpunkt war?
So nannte man das zwar noch nicht, aber es war auf jeden Fall ein heißes Pflaster. In meiner Jugend galt Dulsberg als sozial schwächster Stadtteil Hamburgs, bis es im neuen Jahrtausend massiv renoviert wurde und den schwierigen Ruf ziemlich verloren hat. Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, dann hatte mein Zimmer vielleicht zehn, elf Quadratmeter, war also wie die ganze Wohnung eher beengt. Trotzdem konnte ich mich auch auf so geringer Fläche nicht weniger austoben als auf größerer. Im Gegenteil, mit weniger Platz braucht man bloß mehr Fantasie, die ich schon früh in Geschichten umgesetzt habe. Außerdem war Dulsberg seinerzeit zwar arm, aber keine Favela. Vielleicht wären wohlhabendere Kids damit heute dennoch überfordert, aber darum geht es nicht.
Sondern?
Es geht um Wahrnehmung. Für mich war meine Welt nicht trist, weil ich keine andere kannte. Mir fehlte da schlicht der objektive Blick auf Dinge. Und so gehe ich auch an meine Filmfiguren heran: Ich versuche immer, ihre Sicht einzunehmen, die nun mal vor allem vom eigenen Umfeld geprägt wird. Deshalb kann und will ich die Frauen vom Wedding in „Para“ genauso lieben wie ihre Freundin Paula aus dem Grunewald.
Hat sich Ihr Blick auf die alte Heimat verändert, als Sie aus der dichtbesiedelten City an den überschaubaren Stadtrand gezogen sind?
Schon, aber nicht mit Abneigung. Dort liegen meine Wurzeln, und die haben mich ja zu dem gemacht, was ich heute bin. Meine Prägung gehört zu mir, und ich bin auch nicht von dort geflohen, sondern schlicht weggezogen. Weil man mit Anfang 20 nun mal auf eigenen Beinen stehen will, Neues kennenlernen, Familie gründen – all so was. Und wenn du Kinder hast, ein Büro brauchst, also mehr Freiraum, am besten mit Garten, dann brauchst du in Dulsberg eben gar nicht erst zu suchen. Trotzdem gehört das noch immer zu mir.
Man kriegt den Menschen zwar aus Dulsberg, aber Dulsberg nicht aus den Menschen …
Im Unterton klingt das allerdings immer ein wenig danach, sich nirgends integrieren zu können, womöglich auch nicht zu müssen. Im Umkehrschluss hieße es außerdem, das Leben ließe sich von seinem Ursprung entkoppeln.
Und das geht nicht?
Ich glaube, das schafft niemand so ganz. Natürlich entwickelt man sich im Leben weiter, wird also buchstäblich weitsichtiger. Aber egal, wo man herkommt, aufwächst, wo man sich jemals zu Hause gefühlt hat: Je mehr Zeit du irgendwo verbringst, desto mehr wird das Irgendwo zum Teil von dir. Und nichts ist prägender als die eigene Jugend. Ganz gleich, ob sie in Eppendorf oder Dulsberg verläuft.
Gibt es dort heutzutage denn noch Frauen wie Hajra, Jazz, Fanta und Rasaq?
Sicher, und in den Neunzigern gab es sie auch, obwohl ich eher mit Jungs unterwegs war. Und meine ersten Freundinnen waren auch keine Hajra oder Jazz, aber natürlich wusste ich, wie tough Frauen in meinem Umfeld sein konnten. Bei mir nebenan haben zwei davon einer Mitschülerin mal den Arm gebrochen. Ohne soziale Medien wurde das zwar anders verbreitet als heute, aber von Mund zu Mund hat es doch die Runde gemacht.
Und diese Geschichten werden nun von Ihnen in Formaten wie „4 Blocks“ oder jetzt eben „Para“ verarbeitet?
Verarbeiten klingt so nach Psychotherapie. Aber diese Welten meine ich halt doch so gut zu kennen, dass ich mir auch als Filmemacher ein authentisches Bild davon machen und das Gefühl dafür zum Ausdruck bringen kann. Mit meiner Backstory fällt mir das womöglich leichter als Regisseuren, die von außen draufblicken.
Ihre Eltern sind vor Ihrer Geburt von der Türkei nach Deutschland gezogen. Früher nannte man sie „Gastarbeiter“.
Mein Vater war nachts Taxifahrer und tagsüber bei der Post, meine Mutter war Schneiderin und unsere Wohnung hatte 50 Quadratmeter – das war meine Realität. Sie fand aber im Fernsehen praktisch überhaupt nicht statt. Manchmal kamen beim Großstadtrevier Gangster mit hörbar geschriebenen Lines vor. Es hat mich schon als Kind gestört, dass diese Menschen im Film anders reden als in der Realität.
Und Sie haben es besser gemacht?
Naja, zunächst habe ich Horrorstorys geschrieben, mit zehn, elf Jahren. Kurzgeschichten, die ich sogar in einen Sammelband verlegen durfte. Für die 12.000 Mark Eigenbeteiligung an den Verlag musste mein Vater einen Kredit aufnehmen. Davon konnten wir dann 1.300 Exemplare drucken. Viele davon wurden aber nicht verkauft. Ich habe sogar noch einige hier in der Vitrine rumstehen, quasi als Erbe für meine Kids.
Hat sich das Investment dennoch ausgezahlt?
Langfristig schon. Weil meine Schriftstellerkarriere schon so früh so enttäuschend verlaufen ist, habe ich mit drei Kumpels und einer Videokamera in der Wohnung meiner Eltern kleine Horrorfilme gedreht, in denen die Monster schon wegen unserer begrenzten Möglichkeiten eher als Bedrohung zu spüren, als wirklich zu sehen waren. Doch obwohl diese No-Budget-Horrorfilme inhaltlich fast gar nichts mit meiner Arbeit von heute zu tun haben, bilden sie nicht nur deshalb eine Klammer zu „Para“, weil es meine ersten Gehversuche als Regisseur waren.
Und warum noch?
Wie Hip-Hop kamen damals auch Horrorfilme fast ausschließlich aus dem Ausland; jetzt hören die Kids fast nur noch deutschen Rap und deutsche Serien werden immer anschaulicher. Unsere Popkultur ist so selbstbewusst geworden, dass neben Gangsta-Rap auch Gangster-Serien wie „4 Blocks“ hochwertig und glaubhaft sind.
Erfordert diese Glaubwürdigkeit, dass der Filmemacher vom selben Kiez kommen sollte wie die Protagonisten, oder kann man sich das auch aneignen?
Hängt vom Anspruch ab. Wenn es um Authentizität geht, ist es von großem Vorteil, das Milieu aus eigener Erfahrung zu kennen; das gilt allerdings auch, wenn man was über Landwirte oder Banker macht. Wenn ich das versuche, muss der Film nicht schlechter sein. Man würde ihm aber anmerken, dass ich nicht aus der Welt herausschaue, sondern auf sie drauf. „Chiko“ hat 2008 auch deshalb so gut funktioniert, weil das Publikum meine Vertrautheit mit der Gegend gespürt hat, das hat sich einfach nicht so unecht angefühlt.
So unecht wie kurze Abstecher des Tatorts nach Wedding oder Dulsberg?
Genau. Lebensgefühl ist unerlässlich für die Figuren in „Chiko“ oder „4 Blocks“. Und so brutal, oft unmenschlich sie mit Abstrichen auch in „Para“ agieren: Es sind echte Geschichten echter Menschen aus echten Welten heraus. Und die zu erzählen, ist mir ungeheuer wichtig.
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