piwik no script img

Papier des Auswärtigen Amts zur TürkeiBemerkenswert realistisch

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die realistisch-düstere Einschätzung des Auswärtigen Amts über die Türkei dürfte dort wenig Eindruck machen. Aber Asylsuchende können nun hoffen.

Bei der Beerdigung der im Hungerstreik gestorbenen Menschenrechtsanwältin Ebru Timtik in Istanbul Foto: ap

I n der Türkei gibt es keine Meinungsfreiheit mehr, wer Kritik übt, wird schnell zum Terroristen, und die Unabhängigkeit der Justiz ist so weit abgeschafft, dass dieser vermeintliche Terrorist dann auch mit hoher Wahrscheinlichkeit verurteilt wird. Was Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch schon seit Jahren beschreiben, ist jetzt auch in einem offiziellen Papier des Auswärtigen Amts so bestätigt worden. Das Bemerkenswerteste dabei ist, dass das AA dies nicht nur in einem folgenlosen Diskussionspapier so formuliert, sondern in einem internen Bericht an das Bundesamt für die Anerkennung politischer Flüchtlinge.

Wer einmal intensiver Asylverfahren beobachtet hat, weiß, dass die Stellungnahmen des AA zu dem Herkunftsland der Asylsuchenden in der Regel eher schwammig formuliert sind. Man will schließlich nicht mehr anerkannte AsylbewerberInnen produzieren als unbedingt nötig. Die jetzige Hintergrundbeschreibung für die Entscheider am BAMF zur Situation in der Türkei ist dagegen bemerkenswert realistisch. Entsprechend hoch ist im Moment auch die Anerkennungsquote von rund 50 Prozent für Asylsuchende aus der Türkei.

Zu diesem Realismus hat sicher beigetragen, dass die Situation in Sachen Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit seit dem abgewehrten Putsch im Sommer 2016 kaum noch schöngeredet werden kann. Selbst der türkische Vertragsanwalt der deutschen Botschaft in Ankara landete im Knast.

Entscheidend dürfte aber auch der langjährige deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, gewesen sein, der in seiner Zeit von 2015 bis August 2020 in den Prozessen gegen deutsche und deutsch-türkische JournalistInnen selbst erleben musste, wie schnell man bei der türkischen Regierung und ihrer Justiz zum Terroristen gestempelt wird. Seine Expertise wird in die Stellungnahme des AA eingeflossen sein. In der Türkei dürfte sie wenig Eindruck machen, aber Asylsuchende können hoffen, beim Asylbundesamt oder spätestens bei den zuständigen Verwaltungsgerichten auf Verständnis zu stoßen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Wertegemeinschaften

    Zitat: „In der Türkei gibt es keine Meinungsfreiheit mehr, wer Kritik übt, wird schnell zum Terroristen, und die Unabhängigkeit der Justiz ist so weit abgeschafft, dass dieser vermeintliche Terrorist dann auch mit hoher Wahrscheinlichkeit verurteilt wird. Was Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch schon seit Jahren beschreiben, ist jetzt auch in einem offiziellen Papier des Auswärtigen Amts so bestätigt worden.“

    In diesem Kontext sei daran erinnert, daß die Türkei, dank seiner exponierten geostrategischen Lage gegenüber dem Erz- und Erbfeind Rußland, der NATO angehört. Aber „Die NATO ist nicht nur ein Militärbündnis. Die NATO ist auch eine Wertegemeinschaft. Wir wollen auch in Zukunft Verantwortung für Freiheit, Sicherheit und Frieden in der Welt wahrnehmen. Wir können diese Verantwortung nur gemeinsam mit unseren Verbündeten wahrnehmen. Die NATO ist dafür eine Plattform.“ (Reinhard Brandl, CDU-MdB, Mitglied des Verteidigungsausschusses, vor dem Bundestag am 19.12.2013).

    Nach Irak, Syrien und Libyen werden diese NATO-Werte nunmehr in Gestalt aktiver expansionistischer türkischer Militärintervention nun auch, mit Berliner Rückendeckung, am Süd-Kaukasus verteidigt, und sei es wie im Falle des Alijew-Regimes in Aserbaidschan zugunsten einer Diktatur, gegen die das Lukaschenko-Regime in Belorußland wie ein Pony-Hof aussieht.