Panne bei Kassenärztlicher Vereinigung: Patientendaten weitergereicht
Die Kassenärztliche Vereinigung hat unberechtigterweise Versicherten-Daten von Patienten der Barmer Ersatzkasse an eine Inkasso-Kanzlei weitergegeben.
HAMBURG taz | Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hat unberechtigterweise Versicherten-Daten von Patienten der Barmer Ersatzkasse (BEK) an die Stuttgarter Inkasso-Kanzlei „RVR Rechtsanwälte“ weitergegeben, um vermeintlich ausstehende Praxisgebühren von je zehn Euro aus dem ersten Quartal 2011 eintreiben zu lassen. Das ergaben Recherchen der taz im Zusammenhang mit einer aktuellen KV-Mahnaktion.
Denn die BEK hatte sich aus diesem umstrittenen Inkasso-Prozedere zurückgezogen. „Wir haben von diesem Verfahren seit langer Zeit Abstand genommen“, sagt BEK-Sprecher Daniel Steinmeier der taz. „Die Barmer GEK hat die entsprechenden Datensätze von der KV übernommen und sich selbst um ihre Versicherten gekümmert.“ Die KV habe die Datensätze hunderter Patienten aber nicht gelöscht.
Die KV räumt diese Datenpanne ein. „Das ist ein Versehen unserseits“, sagt KV-Sprecher Joachim Kriens. „Die Barmer Versicherten hätten nicht mehr angeschrieben werden dürfen.“ Das werde für das nächste Quartal 2011 korrigiert.
Die RVR-Geldeintreiber sind seit Mitte April wieder aktiv. Im Auftrag der KV sind 8.000 „Anhörungen“ an Patienten verschickt worden. In dem individualisierten Formblatt wird dem Empfänger mitgeteilt, dass er seine Praxisgebühr von zehn Euro im ersten Quartal 2011 nicht bezahlt habe.
Die Praxisgebühr wurde 2004 eingeführt, um die Kassen der gesetzlichen Krankenkassen zu füllen:
Pro Quartal mussten gesetzlich Krankenversicherte beim Arzt, beim Notdienstes oder in der Notaufnahme einer Klinik zehn Euro Gebühr zahlen.
Die Praxisgebühr kam direkt den Krankenkassen zugute und wurde deshalb im Volksmund auch "Kassengebühr" genannt.
Für Patienten waren die zehn Euro Gebühr neben den Krankenkassenbeiträgen eine zusätzliche finanzielle Belastung.
Für Ärzte ein Ärgernis war die Praxisgebühr vor allem, weil sie in der Praxis abkassiert und an die kassenärztliche Vereinigung abgeführt werden musste. Das führte zu einem höheren Verwaltungsaufwand.
Abgeschafft wurde die Praxisgebühr im Januar 2013.
„In diesem sogenannten Anhörungsschreiben wird darauf hingewiesen, dass der Empfänger nun die Möglichkeit der Überweisung oder aber der Rückäußerung hat“, heißt es auf der KV-Homepage. Die jetzt versandten 8.000 Schreiben beträfen zunächst das erste Quartal 2011. Im Klartext: Weitere Mahnwellen werden im Laufe des Jahres folgen – obwohl die Praxisgebühr 2013 abgeschafft wurde.
Viele Patienten haben derzeit einen RVR-Brief bekommen, laut dem sie ihre Praxisgebühr von zehn Euro „für ihre ärztliche beziehungsweise therapeutische Behandlung am (...) bei (....) nicht bezahlt“ hätten. Häufig sind die Patienten ratlos, weil sie einerseits sicher sind, die Praxisgebühr entrichtet zu haben und ohne zu zahlen ja gar nicht behandelt worden wären, anderseits aber eine Quittung über zehn Euro nicht vier Jahre lang aufgehoben haben.
Für die Verbraucherzentrale ist das KV-Vorgehen ein „Unding“, sagt Hans-Jürgen Förster. „Es gibt sehr viele unberechtigte Mahnungen.“ Und die Inkasso-Anwälte würden sich nicht einmal die Mühe machen, zu prüfen, ob es aufgrund von Fehlern in der Arztrechnung zu unberechtigten Forderungen komme. Rein rechtlich sei das Vorgehen aber zulässig, sagt Förster. Wer sich an einen Arztbesuch nicht erinnern könne, solle im Rahmen der Anhörung auf Belege bestehen, rät er. Oft beruhten Forderungen auf einem Fehler in der Datenverarbeitung, da häufig die Praxisgebühr bereits bei einem anderen, überweisenden Arzt bezahlt worden sei. „Die Kasse ist beweispflichtig, nicht der Verbraucher“, so Förster.
Das sieht die KV anders. „Der Patient muss beweisen, dass er die Praxisgebühr bezahlt hat“, behauptet KV-Sprecherin Franziska Schott. Wer die Eintreiber nicht widerlegen kann, sollte die zehn Euro wohl lieber zahlen, denn im folgenden Mahnverfahren fallen hohe Honorare für die RVR-Anwälte an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen