Pädophilie-Aufarbeitung bei den Grünen: Eine Heimat für alle
Erste Ergebnisse der Göttinger Parteiforscher: Die anfängliche Offenheit der Grünen für Pädophile rührte aus verqueren Ideen der 68er-Bewegung.
BERLIN taz | Die Grünen haben „einen besonderen Resonanzboden“ für Minderheiten geboten – auch für Pädophile. Es sei „propädophilen Kräften über mehrere Jahre hinweg möglich“ gewesen, „ihre Ansichten und Forderungen in den Willensbildungsprozess der Grünen einzuspeisen“. Zu diesem Schluss kommt das Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Forscher um den Politologen Franz Walter haben dem Bundesvorstand der Grünen am Montag ihren Zwischenbericht vorgelegt.
Die im Auftrag der Partei erstellte Studie arbeitet grüne Debatten der achtziger und neunziger Jahre auf. Die Verfasser appellieren an die Grünen, sich mit der eigenen geschichtlichen Verantwortung kritisch auseinanderzusetzen. Das sei unvermeidbar, auch wenn es „qualvoll und „elektoral abträglich“ sein möge.
Die Parteivorsitzende Simone Peter bedankte sich in einer ersten öffentlichen Stellungnahme bei Walter. Der Bericht zeige, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung notwendig sei, er bestärke die Grünen darin, „eine umfassende parteiinterne Aufklärung zu organisieren“.
Die Verfasser der Studie nähern sich der Parteivergangenheit wie einem grünen Entwicklungsroman, der neben erfreulichen Freiheitszuwächsen auch „schmerzhafte Grenzverletzungen, Missbräuche und Traumata“ hervorgebracht habe.
Um die einzelnen Diskurslinien für die Gegenwart nachvollziehbar zu machen, geht der Bericht zurück bis in die späten 1960er Jahre, als das Sexualstrafrecht gründlich reformiert wurde. Eindrücklich wird der Stand der damaligen Forschung über Kindesmissbrauch zusammengefasst.
Dass gewaltlose und „einvernehmliche“ Sexualität mit Erwachsenen Kindern nicht schade, diese Meinung vertrat eine Mehrheit von Psychologen, Juristen, darunter auch die 1961 gegründete Humanistische Union.
Keine bloße Kampagne
Das kam bei den Grünen an. „Als Kind dieser Zeit schlug sich diese Diskussion auch in der Partei Die Grünen nieder und klebt seitdem als Makel an ihr“, heißt es. Die Grünen, die 1985 den Einzug in den Düsseldorfer Landtag auch wegen eines einschlägigen Beschlusses ihres NRW-Landesverbands verpassten, würden gerade vom politischen Gegner bis heute damit konfrontiert. Die 2013 wieder aufgeflammte Debatte über das Thema Pädophilie ordnen die Forscher aber nicht als bloße Kampagne ein, sie sei differenzierter.
Ausführlich seziert der Zwischenbericht das linksalternative „Bewegungsmilieu“ in der Bundesrepublik nach 1968. Im Moment der tiefen politischen Enttäuschung habe sich die Hoffnung auf Fundamentalveränderung auf die Kinder gerichtet. Als „Projektionsfläche einer anzustrebenden Zukunft im Natürlichen, Vordiskursiven“ strebte man deren Befreiung an. Dass Politpädophile nicht nur in der taz für die „sexuelle Revolution“ in ihrem Sinne trommeln konnten, sondern auch bald bei den Grünen, ist aus Sicht der Autoren „wenig verwunderlich“.
Die entscheidende Frage sei, in welchem Umfang dies geschah. Hier entlasten die Forscher die Partei: „In dem politischen Konglomerat, aus dem heraus die Grünen entstanden, war Sexualität ein Diskurs von vielen, aber eben nicht der einzige, schon gar nicht der dominante.“
1985, zum Zeitpunkt des nordrhein-westfälischen Parteitagsbeschlusses, sei die größte Offenheit Pädophilen gegenüber schon vorbei gewesen. Im Grundsatzprogramm fünf Jahre zuvor habe man noch großen Wert auf die Nichtstigmatisierung von „sexuell diskriminierten Bevölkerungsteilen“ gelegt und gar gefordert, das Sexualstrafrecht so zu fassen, dass Pädophile ihre (gewaltfreien) Neigungen ausleben könnten.
Die „Anti-Parteien-Partei“
Die nachfolgende Parteitaktik, von inhaltlichen Positionen nicht dezidiert Abstand zu nehmen, sie aber zurück an die Basis zur weiteren Diskussion zu verweisen, führte dazu, dass man eine Offenheit für das Thema signalisierte, ohne den entsprechenden Beschluss außer Kraft zu setzen.
Dass bei den Grünen Skepsis gegenüber Staat, Parteien und Macht zur Grundhaltung gehörte, dürfte die Offenheit für pädophile Positionen befördert haben. Zum Verständnis der damaligen „Anti-Parteien-Partei“ (Gründerin Petra Kelly) gehörte zudem eine Zugewandtheit zu gesellschaftlichen und politischen Minderheiten.
Vor allem drei Dinge nennt die Studie, die es „noch kleinsten Einflussgruppen“ ermöglichten, bei den Gründungsgrünen Gehör zu finden: die basisdemokratische Verfasstheit der Partei, den programmatisch festgeschriebenen Minderheitenschutz und eine Politik der Betroffenheit.
Man bot allen eine Heimat: den Don-Bosco-Brüdern, Elbfischern, alternativen Handwerkern – und Gruppen wie den Stadtindianern, die nach der Erinnerung des Grünen Ludger Vollmer „stark nach Pädophilie“ rochen.
In einem Exkurs widmet sich der Bericht noch einmal der Rolle, die der Schwulenpolitiker Volker Beck spielte. Der Befund dürfte Beck freuen: Nie habe er eine Funktion in der umstrittenen Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule und Päderasten (BAG Schwup) ausgeübt, habe dort nie „relevante Mitarbeit“ geleistet.
Im Gegenteil: Er habe innerhalb des Grünen-Vorstands eindeutig aufseiten der „pädo-feindlich“ gesinnten Gruppen gestanden. Nur seinen in dem Band „Pädophilie heute“ von 1988 abgefassten Beitrag kritisieren die Verfasser als problematisch.
Die Parteigeschichte muss nach diesem Bericht nicht neu geschrieben werden. Aber für die jetzt folgende innerparteiliche Aufarbeitung leistet er einen unverzichtbaren Beitrag.
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