Ostdeutschland und Geschichte: Warnung vor deutscher „Nabelschau“

For­sche­r:in­nen fordern eine stärkere europäische Ausrichtung des geplanten „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“.

Eine Frau mit kleinem Hund schaut auf eine Brücke

Blick von Frankfurt über die Oder auf das ponische Slubice 1990 Foto: David Baltzer

BERLIN taz | Eigentlich könnte sich der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), freuen. Denn die Pläne für das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, das die Leistungen der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung würdigen soll und von Schneider koordiniert wird, nehmen endlich Gestalt an.

Das Riesenprojekt mit dem sperrigen Arbeitstitel stammt noch aus der Zeit der Regierung Merkels, die Ampelkoalition hat es übernommen. Das Zentrum soll Forschungsinstitut, Begegnungsstätte und Ausstellungsort in einem werden. Geplant ist ein Gebäude von herausragender Architektur, mit Platz für bis zu einer Million Be­su­che­r:in­nen pro Jahr. Errichtet werden soll es irgendwo in Ostdeutschland, im Sommer soll der Standortwettbewerb starten. Bewerben wollen sich unter anderem Leipzig, Halle, Eisenach und Frankfurt (Oder).

„Das Zentrum soll die Erfahrungen und Leistungen der Menschen in Ostdeutschland in den Jahren nach der Einheit sichtbarer machen. Gleichzeitig soll es die Bedingungen für eine gelingende Transformation erforschen sowie Erfolge und Chancen, aber auch lange nachwirkende Folgen der Transformation untersuchen“, sagt Ostbeauftragter Schneider. Neben den gesellschaftlichen Umbrüchen in Ostdeutschland werde es auch um die Freiheitsrevolutionen in den mittel- und osteuropäischen Nachbarländern gehen. Insgesamt diene das Zukunftszentrum dazu, für die Transformationsprozesse der Zukunft zu lernen.

Doch nun, kurz bevor der Standortwettbewerb startet, gibt es Streit um das Projekt. 95 Personen, darunter viele Wissenschaftler:innen, fordern die Regierung in einem offenen Brief dazu auf, das Konzept des Zentrums zu überarbeiten. Es brauche eine stärkere europäische Ausrichtung. „Spätestens der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sollte allen gezeigt haben, dass eine Beschränkung auf die Zeit nach 1989 ebenso zu kurz greift wie die Idee, Deutschland allein ins Zentrum zu rücken“, heißt es in dem Papier. „Es gibt Nationalstaaten, aber keine voneinander losgelösten nationalen Entwicklungswege. In Europa hängt alles engstens miteinander zusammen.“

Empfehlung der Regierungskommission

Die Un­ter­zeich­ne­r:in­nen fordern daher ein Europäisches Freiheits- und Zukunftszentrum. Hauptaufgabe sollte sein, „die politischen und kulturellen Bündnisse zwischen der deutschen Zivilgesellschaft und den europäischen Nachbarn“ zu stärken, um gemeinsam Freiheit und Demokratie gegen autoritäre Herrschaft zu verteidigen.

Die Verfasser des Aufrufs sind Uwe Schwabe vom Archiv Bürgerbewegung Leipzig und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Kowalczuk war einst Mitglied der Regierungskommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, die überhaupt erst die Idee für das „Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ hatte. Die im Frühjahr 2019 von Angela Merkel gegründete Kommission hat Handlungsempfehlungen erarbeitet, um die noch immer vorhandenen strukturellen Ungleichheiten zwischen Ost und West abzubauen – das Zukunftszentrum war eine der Empfehlungen.

Neben Kowalczuk haben noch fünf weitere der 22 Kommissionsmitglieder den offenen Brief unterzeichnet, darunter Maria Nooke, die Brandenburger Beauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, die Politologin Judith Christine Enders und Christine Lieberknecht, die bis 2014 Ministerpräsidentin von Thüringen war und nun Vorstandsmitglied der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist. Die damaligen Vorsitzenden der Kommission, Brandenburgs ehemaliger Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und der damalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz (CDU), haben das Papier nicht unterschrieben. Wanderwitz teilte der taz aber mit, den Aufruf „ausdrücklich“ zu unterstützen.

Postkommunistischen Raum beachten

Spricht man Kowalczuk auf seine Zeit in der Kommission an, sagt er direkt, dass seine Forderungen nicht neu seien. Schon damals habe er „mehrfach heftig“ mit Platzeck über die inhaltliche Ausrichtung des Zentrums diskutiert und dafür geworben, „keine deutsche Nabelschau“ zu betreiben, sondern das Zentrum aus einer europäischen Perspektive zu denken. Dass es im Arbeitstitel des Projekts „europäische Transformation“ heißt, das gehe auf ihn zurück.

„Die Transformation nach 1989 betraf nicht nur Ostdeutschland, sondern den ganzen postkommunistischen Raum“, sagt der Historiker. Das Zentrum müsse Ostdeutschlands Geschichte im Kontext Mittel- und Osteuropas darstellen und die unterschiedlichen Entwicklungswege in Europa einbeziehen. Außerdem dürfe man die Geschichte nicht erst ab 1989 betrachten. „Die Notwendigkeit der Transformationen und ihre verschiedenen Wege werden nur dann verständlich, wenn die historischen Entwicklungen seit der KSZE-Schlussakte von 1975 berücksichtigt werden.“

Dieser Meinung ist auch Uwe Neumärker. Er ist Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und hat den Aufruf unterschrieben. „Wenn wir so ein Großprojekt angehen, dann muss sich der Blick auf ganz Europa richten und nicht nur auf die ehemalige DDR“, sagt Neumärker. „Der Westen, also die alte Europäische Gemeinschaft, hat den früheren Ostblockstaaten in den vergangenen 30 Jahren zu wenig zugehört.“ Die Mehrheit der Deutschen, kritisiert der gebürtige Ostberliner, wisse viel zu wenig über die Freiheitsbewegungen und Transformationen in Mittelosteuropa nach 1990/91. „Wenn wir uns auch diesen Geschichten widmen, dann ist das ein Mehrwert für alle, denn dann können wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten und das Verhalten dieser Länder hoffentlich besser verstehen.“

Mehrere Städte bewerben sich

Ob die Bundesregierung das Konzept für das Zukunftszentrum angesichts des Aufrufs überarbeiten wird, ist fraglich. „Die europäische und damit insbesondere die osteuropäische Transformationsperspektive ist bereits in der bisherigen Konzeption angelegt“, teilte der Ostbeauftragte Schneider mit. „Diese Perspektive stärker zur Geltung zu bringen, ist auch mir ein besonderes Anliegen.“ Die Anregungen und Vorschläge der Initiative würden in die weitere Ausgestaltung des Konzeptes einfließen „können“. Wichtig sei jetzt, so bald wie möglich mit dem Standortwettbewerb zu beginnen.

Der Historiker Kowalczuk findet es unsinnig, den Wettbewerb einzuleiten, ohne dass gesellschaftspolitisch diskutiert worden sei, welche Ausrichtung das Zentrum haben soll. Er betont: „Das bisherige Konzept für das Zentrum und unser Vorschlag unterscheiden sich erheblich voneinander.“

Trotz der Debatte über das Zukunftszentrum bereiten die Städte eifrig ihre Bewerbungen vor. Aus Thüringen wollen sich Jena, Eisenach und Mühlhausen bewerben, aus Sachsen-Anhalt Magdeburg, Halle und Wittenberg, aus Brandenburg Frankfurt (Oder) und aus Sachsen Leipzig, Plauen und Chemnitz. Manche der Städte planen gemeinsame Bewerbungen. Für das Zentrum soll entweder ein neues Gebäude gebaut oder ein bestehendes umfunktioniert werden. In Magdeburg könnte es im Wissenschaftshafen entstehen, in Leipzig im Matthäikirchhof in der Innenstadt, in Frankfurt (Oder) neben der Stadtbrücke, die ins polnische Słubice führt und für viele als Symbol eines geeinten Europas gilt.

Die Baukosten werden auf 200 bis 220 Millionen Euro geschätzt, die jährlichen Kosten auf 43 Millionen Euro. Die Frage, wer für die Kosten aufkommen werde, sei zum jetzigen Zeitpunkt „nicht seriös“ zu beantworten, teilte der Sprecher von Carsten Schneider auf Anfrage mit. Das hänge von den weiteren Planungen ab.

In welcher Stadt das Zentrum am Ende errichtet wird, soll eine von der Regierung eingesetzte Jury in der zweiten Jahreshälfte entscheiden. Fertig werden soll das Zukunftszentrum bis zum Jahr 2028.

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