Ostdeutsche Fotografin Evelyn Richter: Durch politische Gezeiten
Im Kunstpalast Düsseldorf ist eine große Retrospektive der 2021 verstorbenen Fotografin Evelyn Richter zu sehen. Darunter ist viel Unbekanntes.
Als 1989 die Galerie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst versuchte in einem Ausstellungskatalog eine gesamtdeutsche Fotogeschichte zu schreiben, zwang sie Bernd und Hilla Bechers ikonische Fachwerkhäuser aus dem Siegerland grobschlächtig mit dem Scherengitter-Bild einer Pförtnerloge von Evelyn Richter zusammen.
Auch im Leipziger Archiv der Fotografin Evelyn Richter finden sich frühe Studien thüringischer Fachwerkfassaden, allerdings stehen bei ihr – im Unterschied zur Becher’schen Vermeidung von allem Körperlichen – Menschen im Bild.
Den Becher-Preis für Fotografie konnte die 1930 in Bautzen geborene Evelyn Richter 2020 schon nicht mehr entgegennehmen. 2021 verstarb sie in Dresden noch vor ihrer ersten großen Retrospektive in Westdeutschland, die nun im Kunstpalast Düsseldorf stattfindet.
Mit Aufträgen über Wasser gehalten
„Mit dem Tod von Künstler:innen ändert sich die Situation, aus der wir ihr Werk betrachten“ betonen die Kurator:innen Linda Conze, Jeanette Stoschek und Jan Wenzel in ihrem detaillierten Katalog zur Ausstellung. Darin zeigen sie fotografische Auftragsarbeiten, mit der sich die freischaffende Künstlerin Evelyn Richter überhaupt in der DDR über Wasser halten konnte.
Evelyn Richter. Kunstpalast Düsseldorf, bis 8. Januar 2023; Museum der bildenden Künste Leipzig, ab 24. Mai 2023. Katalog 42 Euro
Und sie öffnen ihr Arbeitsdepot. Lange nämlich verstaute Richter ihre Abzüge in ORWO-Kartons. Denn Künstler:innen aus der DDR – und Richters wichtige Arbeitsphase umspannt die 40 Jahre im geteilten Deutschland – arbeiteten häufig auf spätere Zeiten hin.
Die Ebenen zwischen dem offiziellen Werk und einem verstreutem „Überschuss“ der Materialien, jenen Bildern aus den ORWO-Kartons, werden prägnant im Katalog kenntlich gemacht. Und so bietet der von Wolfgang Schwärzler durch Papierwahl, abgestufte Gestaltungen, eingebettete Materialien und dichte Bezugnahmen gestaltete Band frische Perspektiven auf ein schon kanonisiertes Werk der Fotografin.
Selfie in Minsk
Richters frühe Aufnahmen sorbischer Trachten stehen August Sanders ethnologischer Sicherungsarbeit im Westerwald nahe. Doch dann stürzte sich ihre Kamera berauscht in die sowjetischen Metropolen; auf einem Selfie in Minsk von 1957 fällt sie aus der kontrollierten Rolle und blickt verliebt in die Kamera. In der Stadtverwaltung von Kiew hängen Pläne zum Wiederaufbau – erst wenige Jahre zuvor hatte die Deutsche Wehrmacht hier nur Zerstörung und Tod hinterlassen. „Von da an konnte ich einfach nicht mehr so fotografieren wie bisher“, wird sie im Katalog zitiert.
Später wird Evelyn Richter die Dokumentaristin eines heute vergessenen Kulturlebens in der DDR. Auf einem Bahnsteig lungern Teenager mit Ghettoblaster in einem Moment popkultureller Freiheit. Häufig porträtierte die zwischen der Lausitz, Leipzig und Berlin per Zug pendelnde Fotografin andere Reisende.
Oder sie begleitet in langen Werklinien und körnigen Kontrasten den Komponisten Paul Dessau gemeinsam mit den Kollegen Luigi Nono und Hans Werner Henze, dem Dramatiker Heiner Müller oder der Regisseurin Ruth Berghaus – „so, als würde man einen Menschen einsammeln“, heißt es im Katalog. Evelyn Richters Weg windet sich durch politische Gezeiten. So wird sie geschätzte Foto-Professorin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, die sie Jahrzehnte vorher noch exmatrikuliert hatte.
In der Düsseldorfer Ausstellung führen 300 Schwarz-weiß-Aufnahmen und Materialien (Bücher, Schallplattenhüllen, Kontaktbogen, Archivalien) in neun Kapiteln durch ihre Arbeitsschwerpunkte. Dean Dixon, der schwarze Chefdirigent des Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt, wandelt mit Neuer Musik im Gepäck zwischen West und Ost und wird bei einer Probe 1967 im Leipziger Gewandhaus als passionierter Musikarbeiter porträtiert. Auch der Maler Otto Dix pendelte regelmäßig zwischen Dresdner Lithografiewerkstatt und seinem Atelier am Bodensee.
Ihre Bilder von spanischen Bürgerkriegsflüchtlingen, die nach dem Ende des Franco-Faschismus 1975 ihre Rückkehr aus der DDR vorbereiten, decken ein vergessenes Detail der politischen Geschichte Europas auf. Per Zufall war Richter auch 1961 dabei, als die trennende Mauer in Berlin gebaut wurde. Sie konnte heimlich einige aus dem Lot geratene Aufnahmen sichern.
Zwei Reisen zur photokina-Messe nach Köln und zum Fotofestival im französischen Arles festigten internationale Kontakte. Von einer „Verflechtungsgeschichte“ zwischen Ost und West spricht hierbei Linda Conze. Sie lässt sich in der nach Leipzig weiterwandernden Ausstellung nachlesen. Obwohl – und das machen Schau und Katalog deutlich – diese Verflechtungen auch noch mehr erforscht gehören.
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