Orchester aus Lviv auf Tour: Die Schönheit ukrainischer Musik
Die Musiker des Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra wollen Botschafter ihrer Kultur sein. Jetzt spielen sie in der Berliner Philharmonie.
Zusammen mit einigen Kollegen wartet Denys Lytvynenko morgens um kurz vor neun schon vor dem Künstlereingang der altehrwürdigen Philharmonie im Herzen von Lviv, dem Sitz des Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra. Der verabredete Interviewtermin muss verschoben werden, ganz kurzfristig seien sie aufgefordert worden, sich im Rekrutierungsbüro einzufinden. Sie müssen los. Dann also morgen früh! Aber auch am nächsten Morgen klappt es nicht – Denys muss nun zu einer militärärztlichen Untersuchung.
Als man später an diesem klirrend kalten Tag Ende November endlich zusammensitzt, ist die erste Frage, ob tatsächlich auch Musiker eines Weltspitzenorchesters eingezogen werden können. Selbstverständlich. Ja. Es kann jederzeit geschehen. Nur wenige Ausnahmefälle sind geregelt.
Der Krieg, der hier so präsent ist, welche Auswirkungen hat er? Im vergangenen Jahr, erzählt Denys, Konzertmeister der Cellogruppe und seit 14 Jahren Mitglied im Orchester, „da war es ziemlich hart. Manchmal gab es mehrfach täglich Bombenalarm in Lviv, im Winter tagelang keinen Strom, kein Licht, es war oft sehr kalt.“ Mittlerweile mache Luftalarm ihn nicht mehr nervös.
Sein Kollege Mihailo Sosnovskyi, erster Flötist und Manager des Orchesters, sagt: „Alle Ukrainer haben inzwischen jemanden verloren, den sie geliebt haben. Oder machen sich große Sorgen um jemanden, der vielleicht im Donbass im Schützengraben liegt. Aber für die Soldaten ist es noch schrecklicher, sie frieren, haben Hunger – also warum sollten wir hier unsere Aufgaben nicht erfüllen können.“ Er selber habe bereits etliche nahestehende Menschen verloren, natürlich sei die Trauer immer da. „Ich spiele jetzt zur Ehre derjenigen, die ich verloren habe.“
Herausragende Musiker
Das Orchester verfügt über eine große Zahl herausragender Künstler. Mikhailo etwa ist nicht nur Konzertmeister der Flötengruppe, sondern tritt regelmäßig auch als Solist auf. Denys, der auch Komponist ist, ist seit neun Jahren Cellist des renommierten Phoenix String Quartet, das bis Februar 2022 weltweit Tourneen unternommen hat und sich aus den vier Stimmgruppenführern der Streicher zusammensetzt.
Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra: Benefizkonzert „Sound of Ukraine“, Philharmonie Berlin, 13. 12.
Volodymyr Syvokhip, Dirigent der Symphoniker und seit 2006 Direktor und künstlerischer Leiter, ist sich sehr wohl bewusst, mit welch hochkarätigen Instrumentalisten er arbeitet und schwärmt, „all diese Musiker sind es gewohnt, sehr gut aufeinander zu hören, es entsteht eine große Energie und Synergie und so können wir auch sehr anspruchsvolle Werke miteinander spielen.“ Wenn sie nicht zusammen seien, würden sie einander vermissen, erzählt er – und noch immer seien nach Tourneen während des Krieges alle wieder mit zurückgekommen. Gerade bereiteten sie sich auf die letzte Reise dieses Jahres vor, die nach Berlin.
Es gibt einen spürbaren gemeinsamen Spirit, der sich auch in dem Willen ausdrückt, mit der Musik Botschafter ihrer Kultur und für die Unabhängigkeit zu sein. Vielfältige kreative Projekte für den Frieden und die Einheit ihres Landes erzählen davon. Im März 2014 etwa habe man ein nationsübergreifendes Kulturprojekt initiiert, „Shared Sky“, „gemeinsamer Himmel“. Sieben führende Orchester aus Nord und Süd, Ost und West führten zur selben Stunde auf sieben Flughäfen des Landes Beethovens „Ode an die Freude“ auf. Um die unteilbare Einheit des gesamten Landes augenfällig zu machen und als Zeichen für das Assoziierungsabkommen mit der EU.
Eigener Youtube-Kanal
„Ausgelöst durch den Krieg haben wir das Bedürfnis, unserem Volk und der Welt zu zeigen, wie hinreißend schön unsere Musik und wie groß und tief unsere Kultur ist“, so Syvokhip. Vieles davon sei selbst in der Ukraine derzeit nicht verfügbar oder unbekannt, beklagt Denys: „Zur Zeit des Sowjetimperiums durftest du deine Kultur nicht vertreten, es hätte dich dein Leben gekostet. Alles Ukrainische wurde unterdrückt.“ Gerade spielten sie so viele Werke ukrainischer Komponisten ein wie irgend möglich und veröffentlichten diese über einen eigenen Youtube-Kanal.
Die Liste der Solisten und Gastdirigenten, einzusehen auf der Webseite, die jahrzehntelang bis zum Beginn der vollumfänglichen Invasion in Lviv zu Gast waren, liest sich wie ein „Who's Who“ der ganz Großen. Aber viele Künstler trauen sich seit Februar 2022 nicht mehr ins Land. Die Lviver Philharmoniker, in den vergangenen Jahrzehnten Initiatoren und Gastgeber zahlreicher renommierter Festivals für Alte bis Zeitgenössische Musik, dürfen zum Glück reisen. Die Carnegie-Hall in New York und das Haus der Nobelpreisvergabe in Stockholm etwa waren in diesem Jahr Auftrittsorte. Das Konzert nun in Berlin werde so etwas wie „die Kirsche auf dem Sahnestück“, alle freuten sich riesig darauf, sagt Mikhailo.
Selbstverständlich wird es eröffnet mit dem Werk eines ukrainischen Komponisten, Jewhen Stankowytsch, „Die Nacht vor Weihnachten“, gefolgt von dem Violinkonzert d-Moll von Jean Sibelius und der Sinfonie Nr. 9 e-Moll, „Aus der Neuen Welt“ von Antonin Dvorak. – Nach allem, was bisher angekündigt ist: Dieses Benefizkonzert hat das Zeug, zu einem unvergesslichen Abend zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!